1.7.99
An
1) den Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen
2) die Bundestagsfraktion
- Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller
- Fraktionsvorsitzender Rezzo Schlauch
- MdB Christian Sterzing
- MdB Ulrike Höfken
- MdB Matthias Berninger
- MdB Christine Scheel
- MdB Oswald Metzger
- MdB Christian Simmert
3) die bündnisgrünen Mitglieder der Bundesregierung
- Minister Joschka Fischer
- Minister Jürgen Trittin
- Ministerin Andrea Fischer
Protest gegen die bündnisgrüne Bundespolitik
Liebe Freundinnen und Freunde,
auf einstimmigen Beschluß unserer Mitgliederversammlung vom 29.6.99 protestieren
wir auf das Schärfste gegen den derzeitigen Kurs der bündnisgrünen
Politik auf Bundesebene.
Dieser Protest richtet sich sowohl an die Adresse der grünen Regierungsmitglieder
und an einen Teil der Bundestagsfraktion als auch an die Parteispitze.
Euer derzeitiges desolates, profilloses und unsolidarisches Auftreten zerstört unsere mühevolle Kleinarbeit in den Kreis- und Ortsverbänden, Kreistagen und Räten und führt das grüne Politik-Projekt an den Rand des Abgrunds.
Vor wenigen Wochen hatten wir in Rheinland-Pfalz Kommunalwahlen. 5 Jahre hervorragender, engagierter Ratsarbeit waren umsonst, weil wir infolge des negativen Images der Bundespartei und -regierung massiv abgestraft wurden. Fast die Hälfte unserer Sitze ging verloren. Das ist ausschließlich Euch zuzuschreiben.
Unsere Aktiven (und offenbar viele, die uns bislang wohlgesonnen waren) sind enttäuscht von Euch und Eurer Arbeit, frustriert und kaum noch zur Mitarbeit und zum Werben für bündnisgrüne Positionen zu bewegen. Eine Reihe von langjährigen Mitgliedern sind bereits ausgetreten. Wenn bei Euch keine deutliche Besserung eintritt, werden in nächster Zeit weitere gehen, darunter die aktivsten im Kreisverband. Das hieße, daß unser Kreisverband - einer der größten in Rheinland-Pfalz - völlig zusammenbräche.
Unsere Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Bündnisgrünen mußten schon im Koalitionsvertrag zahlreiche
Kröten schlucken. Diesen Kompromiß konnten wir mittragen und
vertreten auf Grund der (von Euch auf der BDK in Bonn versprochenen!) Aussicht,
daß wenigstens einige grüne Essentials umgesetzt würden.
Selbst hiervon wird nun Stück für Stück abgerückt. Und
zwar nicht nur unter dem Druck Schröders.
Uns Grünen bleiben in der Regierung damit noch nicht einmal die wenigen
Nischen im Bereich Atompolitik, Ökologie oder Staatsbürgerschaftsrecht.
In der Öffentlichkeit entsteht so das Bild von profillosen Mehrheitsbeschaffern,
Pöstchenjägern und Nabelbeschauern.
Verstärkt wird dies noch durch die der Öffentlichkeit nicht verrmittelbaren
Vorstöße und Papiere in Richtung Öko-FDP.
Dafür wurdet Ihr nicht gewählt, und dafür haben wir uns im
Wahlkampf nicht für Euch zerrissen!
Ihr verlaßt bisher unverzichtbare Positionen des bündnisgrünen
Grundkonsenses.
Dazu gehört nicht nur der Verzicht auf militärische Gewalt und Auslandseinsätze
der Bundeswehr ohne UN-Mandat (Hierüber haben wir wenigstens eine offene
Diskussion geführt und nachträglich mehr oder weniger demokratisch
abgestimmt in Bielefeld).
Wer aber gibt Euch das Votum für Castortransporte und einen langfristigen
Weiterbetrieb von AKWs?!
Und wieso betreibt Ihr auch noch aktiv in der EU das Geschäft der Auto-Lobby?!
Mit dem massiven Einsatz gegen die EU-Altauto-Verordnung ausgerechnet eines
grünen Umweltministers wurde in der Öffentlichkeit das Bild vom käuflichen
Politiker (nun auch grünen käuflichen Politiker) bestätigt.
Sind Euch Eure Posten so wichtig, daß Ihr bei Schröder noch nicht
einmal auf die Einhaltung des Koalitionsvertrages bestehen könnt?
Nach dem Kosovo-Streit in unserer Partei solltet Ihr gewarnt sein. Wenn Ihr
beim Thema Atom auch noch einknickt, fliegt unsere Partei gänzlich auseinander.
Mit Eurem Nachgeben gegenüber den mächtigen Lobby-Gruppen betreibt
Ihr de facto weiterhin eine Politik der Umverteilung von unten nach oben.
Während Millionen von SteuerzahlerInnen, RentnerInnen und Arbeitslosen
Steuererhöhungen und Sparkonzepte hinnehmen müssen, ohne sich wehren
zu können, kann die Großindustrie durch ein Telefonat oder Besuch
bei der Bundesregierung ihre Interessen sichern.
Einschnitte sind sicher unverzichtbar und auch der Bevölkerung vermittelbar
- aber, bitte schön, dann für alle und nicht nur bei den kleinen Leuten!
Waren wir Grünen nicht einmal gerade für sie und für Schwache
und Minderheiten angetreten, oder sind wir nur noch eine Partei der Besserverdienenden?!
Die Darstellung sowohl der Regierungs- wie auch der Bundesparteipolitik in der
Öffentlichkeit ist vielfach unprofessionell und macht gute Ansätze
kaputt.
Beispiel Rente: Wo ist die breit angelegte Informations-Kampagne, die den Menschen,
denen die Regierung an den Geldbeutel geht, das verständlich und akzeptabel
erklärt?
Was soll ein Wähler davon halten, wenn der Entlastungseffekt der Ökosteuer
für den Rentenbeitrag innerhalb von 2 Tagen mehrfach korrigiert wird? Könnt
Ihr nicht zuerst einmal rechnen, bevor ihr Zahlen herausposaunt?
Warum stellt Ihr die Grundsicherung bei der Rente nicht heraus? Das ist doch
ein grüner Erfolg.
Wieso laßt Ihr Euch Schröders vollmundigen Versprechungen, die Nettolohnrente
bleibe erhalten, nun als "Rentenlüge" mit ans Bein binden? Er
hat das doch verbockt, nicht wir.
Ihr habt doch hochbezahlte PR-Leute und MitarbeiterInnen - haben die ihr Handwerk
nicht gelernt oder nur keinen Einfluß auf die Profilierungsinteressen
einzelner Leute aus Fraktion und Regierung, die jederzeit irgendeinen neuen
Unsinn in ein Mikrofon abgeben?
Nehmt Euch ein Beispiel an Andrea Fischer. Obwohl die Pharma- und Ärztelobby
aufschreit, zieht sie ruhig, aber unbeirrt ihre Gesundheitsreform durch. Bravo,
Andrea, für diesen Politikstil!
Besonders ärgerlich in der jetzt schwierigen Position unserer Partei ist
das unsolidarische Verhalten gegenüber den eigenen Leuten in der Regierung,
mit dem durchsichtigen Ziel, die Machtposition eines Flügels ein bißchen
ausdehnen zu können.
Bei aller Kritik an Jürgen Trittin und seinem Kommunikationsstil, wenn
er von Euch auch noch ständig und öffentlich angesägt wird, schwächt
Ihr die grüne Position insgesamt. Wie soll er gegenüber Schröder
und Müller noch einen Atomausstieg durchsetzen? Ihr erledigt so das Geschäft
Schröders und des politischen Gegners, oder Ihr liefert ihnen willkommene
Steilvorlagen.
Und wenn dann (statt einer demokratisch organisierten programmatischen Grundsatzdiskussion)
auch noch inhaltsleere Papiere auf den Medienmarkt geworfen werden, die hauptsächlich
zur Ausgrenzung Andersdenkender aufrufen, bleibt bei der Normalbürgerin
nur der Eindruck übrig: Den Grünen sind meine Probleme egal, sie streiten
wieder einmal mit sich selbst.
Politische Erfolgsmodelle, mit denen man MitkämpferInnen und Wahlen gewinnen
kann, stellen wir uns anders vor!
Wir rufen Euch darum eindringlich auf:
Beendet Eure parteiinternen Machtspielchen und Ausgrenzungsversuche und tretet
nach außen wieder solidarischer und geschlossener auf!
Macht wieder überzeugende Politik und packt die Probleme der Menschen an,
so wie es vor den Wahlen versprochen wurde!
Besinnt Euch auf die im grünen Programm festgelegten politischen Grundsätze
und entwickelt sie in offenen, demokratischen Diskussionen weiter!
Fordert die Festlegungen im Koalitionsvertrag buchstabengetreu ein!
Knickt nicht auch noch beim Atomausstieg ein! Andernfalls verlaßt die
Koalition!
Bis zu einer erkennbaren Verbesserung Eurer Politik in dem vorgenannten Sinne
entzieht der Kreisverband Westerwald Euch seine Unterstützung.
Auf Beschluß der Kreismitgliederversammlung vom 29.6.99 werden wir bis auf weiteres darum auch keinen Beitrag mehr an die Bundespartei zahlen sondern diesen auf ein Sperrkonto überweisen.
Ihr gebt unverzichtbare grüne Positionen auf und vertretet nicht mehr unsere Ziele - warum sollen wir Euch noch bezahlen?!
Von allen oben Angeschriebenen erwarten wir dringend eine schriftliche Stellungnahme oder eine Diskussion mit der Basis.
Gruß
Egbert Bialk
Kreisverband Westerwald, Sprecher