Erneuerung aus eigener Kraft:
Eine Strategie für Bündnis 90 / Die GrünenPolitische Erklärung von Basisgrün – Linke Grüne in Bayern
Ismaning bei München, 26.9.1999
Unsere Vision ist eine grüne Partei, die sich aus eigener Kraft erneuert
Sie wird zu der Partei, die dafür steht, daß die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Lebensweisen innerhalb der heutigen Generationen zur Voraussetzung sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Lebenschancen der zukünftigen Generationen wird.
Sie wird zu der Partei, die ihren Führungsanspruch im Wettbewerb um die besseren Lösungen für die wachsenden globalen Umweltprobleme ernst nimmt, auch wenn Umweltschutz scheinbar mehr Einfluß hat, als je zuvor.
Sie wird zu der Partei, in der offen um die besseren Lösungsansätze gestritten werden kann - ohne gegenseitige Demütigung und Ehrabschneiderei.
Sie wird zu der Partei, die das sozial-ökologische Reformprojekt heute beginnt.
Ziele grüner Erneuerung aus eigener Kraft
Die tiefe Erschütterung der sozialen, ökologischen, friedenspolitischen und bürgerrechtlichen Glaubwürdigkeit des bündnisgrünen Projekts bei großen Teilen der WählerInnen und Mitglieder zu überwinden. Die Menschen von den Vorteilen des sozial-ökologischen Reformprojekts zu überzeugen, indem sie auch kurzfristig spüren, wie es ihre sozialen und ökologischen Lebensverhältnisse verbessert.
Alle verfügbaren gesellschaftlichen Bündnispartner für die Durchsetzung des sozial-ökologischen Reformprojekts zu mobilisieren: außerhalb und innerhalb der Parlamente.
Die Grüne Partei zu einer lebendigen und lernenden Institution zu machen, die Professionalität und Basisdemokratie, Loyalität und offenen Meinungsstreit, Regierungsfähigkeit und Selbstbewußtsein verbinden kann.
Einen eigenständigen und unverkennbaren Platz als neue gesellschaftliche Grundströmung unserer Zeit einzunehmen - neben Konservatismus, Liberalismus und Sozialdemokratie.
Die Krise der grünen Partei ist vor allem ein Politikproblem
Die Glaubwürdigkeit des bündnisgrünen Projekts ist bei großen Teilen der WählerInnen und Mitglieder erschüttert, zuallererst durch den friedens- und sicherheitspolitischen Schwenk, der mit der Entscheidung für den Kosovo-Krieg der Mehrheit auf dem Bielefelder Parteitag verbunden war. Der grünen Partei wird von den WählerInnen keinerlei Kompetenz bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit in der heutigen Generation zugebilligt. Die Sensibilität für dieses Thema ist auch tatsächlich innerhalb der Partei und unter den Mandatsträgern unterentwickelt. Selbst auf ihren zentralen Kompetenzfeldern - Ökologie und Bürgerrechte - wird grüne Politik mittlerweile als widersprüchlich, unprofessionell und opportunistisch wahrgenommen. Auch wenn "das Umfeld" des deutschen Aussenministers etwas anderes suggeriert - die Bündnisgrünen haben weniger ein Struktur- und Personalproblem, als vor allem ein Politikproblem.
Das Politikproblem von Bündnis 90 / Die Grünen ist das Ergebnis von Defiziten der Erkenntnis, nicht der Umsetzung.
Bündnis 90 / Die Grünen ist es nicht gelungen, ein widerspruchsfreies Konzept für dieses gesellschaftliche Umbauprojekt zu entwickeln, das die Herstellung sozialer Gerechtigkeit mit der Durchsetzung einer ökologischen Lebensweise glaubwürdig verbindet. Dies ist ein Defizit der Erkenntnis, nicht der Umsetzung.
Der entscheidende blinde Fleck in der bündnisgrünen Programmatik ist die unklare Definition der Aufgaben des Staates - auf nationaler und europäischer Ebene - als dem entscheidenden politischen Handlungsraum für die Durchsetzung eines sozial-ökologischen Reformprojekts.
Stattdessen wird durch eine ideologische Verwendung der Begriffe "Nachhaltigkeit" und "Generationengerechtigkeit" das bündnisgrüne Projekt entpolitisiert und seiner sozial-ökologischen Substanz beraubt. Anstatt die Idee der nachhaltigen Entwicklung für das grüne Reformprojekt wirkungsvoll nutzbar zu machen und seinen dazu gehörigen sozialen, ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Teilbereichen jeweils angemessene Ziele, Aufgaben und Instrumente zuzuordnen, wurden die Begriffe heillos vermengt. Eine gute Idee konnte so unter der Hand zu einer Rechtfertigungsideologie für den marktradikalen Schwenk grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik verkommen. Konkret förderte beispielsweise die Reduktion des ökologischen Umsteuerns auf die Einführung von Ökosteuern in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck eines unsozialen Gesamtkonzepts.
Der Begriff der "Generationengerechtigkeit" als neue Maxime grüner Sozialpolitik blendet die soziale Realität systematisch aus, daß Kapital, Lebenschancen und Ressourcen bereits innerhalb der heutigen Generationen extrem ungleich verteilt sind. Will man - um einer angeblichen Gerechtigkeit zwischen den Generationen willen - auf eine Behebung der Ungleichheit durch Eingriffe aus Steuermitteln und eventuelle Nettokreditaufnahmen verzichten, so transportiert man soziale Ungleichheiten innerhalb einer Generation einfach auf die nächste. Warum eine Partei, die bisher soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat, dies tut, bleibt unerfindlich.
Statt die europäische Währungsunion als soziale und beschäftigungspolitische Herausforderung anzunehmen, fordern grüne Haushaltspolitiker, die gesamtwirtschaftlich unsinnigen Vorgaben des Waigelschen "Stabilitätspaktes" als "Leitlinien einer nachhaltigen Finanzpolitik" auf allen Ebenen durchzusetzen. Anstelle eine "Rückkehr der Politik" wirklich zu fördern, wird im Namen einer "nachhaltigen Finanzpolitik" darüber hinaus eine drastische Reduktion der Staatsquote zum obersten Politikziel erklärt. Tatsächlich wird damit politische Handlungsfähigkeit im Sinne eines sozial-ökologischen Reformprojekts "nachhaltig" eingeschränkt und die Privatisierung sozialer Lebensrisiken - auch zukünftiger Generationen - vorangetrieben.
Eine Kehrseite des unklaren Staatsbegriffs ist die schwammige grüne Rhetorik von der Zivilgesellschaft. Ironischerweise wurden in Wirklichkeit zivilgesellschaftliche Bündnispartner von der grünen Regierungspartei bislang kaum in Anspruch genommen, um gesellschaftliche Mehrheiten für die Durchsetzung wichtiger grüner Reformvorhaben - wie der doppelten Staatsbürgerschaft oder dem Atomausstieg - zu mobilisieren. Im ersten Fall trug das mit zu einem ersten politischen Desaster bei, im zweiten Fall könnte es die Existenzfrage der grünen Partei aufwerfen. Im Falle der Kosovo-Krieges wurde sogar - im Namen der Staatsräson und Bündnistreue - eine wesentliche zivilgesellschaftliche Wurzel der grünen Partei, die Friedensbewegung, still gestellt und zum Teil herausgerissen .
Grüne Sprachlosigkeit nach dem Parteitag in Bielefeld
Die Konsensmühle des parteiinternen "Burgfriedens" war sicherlich eine Ursache für den programmatischen Stillstand vor dem Magdeburger Parteitag. Die Aufkündigung des "Burgfriedens" hat aber bislang keinen konstruktiven innerparteilichen Dialog in Gang gebracht, sondern den einzelnen nur offenbart, wie kostspielig und riskant offener Widerspruch zur offiziellen Parteilinie für die eigene politische Karriere geworden ist. Darüber hinaus hat die parteiinterne Auseinandersetzung über den Kosovo-Krieg alte Freundschaften beendet und neue Feindschaften begründet. Eine beredete Sprachlosigkeit ist zum Allgemeingut grüner Diskussionskultur geworden. Forderungen der jungen Liberalos nach einer "teilweisen Auswechslung der Mitgliedschaft" sind der Entwicklung einer neuen Dialogfähigkeit sicherlich nicht förderlich: Die Option der "Abwanderung" bedeutet für viele Grüne und Ex-Grüne die Aufgabe ihres politischen Projekts. Wenn der Verlust beider Optionen - Widerspruch und Ausstieg - persönliches grünes Engagement gefährdet, ist die Gefahr groß, daß Bündnis 90 / Die Grünen von einer ehemals identitätsstiftenden Institution, die Motivation und Loyalität ihrer Mitglieder erzeugt, zu einer schikanösen und tyrannischen Veranstaltung wird.
Ungültige oder falsche Annahmen grüner Strategien
Zu den ursprünglichen Annahmen grüner Strategien, die nicht mehr gültig sind oder sich als falsch erwiesen, gehört u.a., daß
- die Grünen mit ihrem ganzheitlichen Anspruch von vorne herein die "geborene" Partei gesamtgesellschaftlicher Veränderung sei,
- das ökologische Paradigma auch den Schlüssel für die Erkenntnis und die Veränderung aller anderen gesellschaftlichen Bereiche bieten würde
- die grüne Partei aufgrund des hohen durchschnittlichen Bildungsniveaus ihrer Mitgliedschaft und ihrer ökologischen Kompetenz prädestiniert sei als die Partei aller Zukunftsfragen
- das alternative, "postmaterielle" Milieu der achtzigerJahre zu den "nachwachsenden Rohstoffen" der grünen Partei gehören würde
- die grüne Partei aufgrund ihres avantgardistischen Anspruchs der "Zukunftsfähigkeit" automatisch das jugendliche Wählerpotential an sich binden würde
- die grüne Partei der Hort "herrschaftsfreier Kommunikation" und demokratischer Willensbildungsprozesse sei
- die Frauenquote eine hinreichende Bedingung zur Erosion der Macht patriarchialer Männerseilenschaften sei
- es mit der SPD durch programmatische Konvergenz eine "geborene" und unaufkündbare strategische Partnerschaft für ein sozial-ökologisches Reformprojekt gäbe.
Drei Sackgassen – ein strategischer Ausweg
"Fortgesetzte Sozialdemokratisierung". Für diese Option sprach bisher, trotz aller Abgrenzung vom sozialdemokratischen "Strukturkonservatismus", daß es zumindest Zeitweise eine gewisse programmatische Konvergenz in Richtung auf ein sozial-ökologisches Reformprojekt gegeben hatte. Auch erschienen bisher die programmatischen Differenzen im Verhältnis zu den Unionsparteien vor allem in Fragen der Bürgerrechte sowie der Aussen- und Sicherheitspolitik unüberbrückbar. Gegen die These der "geborenen Partnerschaft" mit der SPD sprach jedoch schon immer, daß sie zugleich auch eine "babylonische Gefangenschaft" und hochgradige Erpreßbarkeit für die grüne Partei bedeutete. Angesichts der aktuellen Rechtsverschiebung der deutschen Sozialdemokratie in Richtung auf die "neue Mitte" ist diese strategische Option allerdings mit der Erosion des sozial-ökologischen Reformprojektes und einem fortgesetzten Profilverlust der Grünen gleichzusetzen. Ein Anpassungskurs an Schröders "Neue Mitte" bedeutet, das Konzept der "geborenen Partnerschaft" nach rechts zu verschieben, anstatt sich aus dieser Falle der Erpreßbarkeit zu befreien. Mit diesem Kurswechsel auf eine neoliberale Politik - die ihr Heil in der Senkung der Staatsquote sucht, anstatt einen politischen Gestaltungsanspruch zu erheben - wird Rot-Grün zum Katalysator der Nichtwählerpartei. Bereits jetzt drücken die neuen NichtwählerInnen aus, daß vom Kurs der "neuen Mittigkeit" ihre Hoffnungen auf einen Politikwechsel, der die Lösung der dringendsten sozialen und ökologischen Probleme spürbar angeht, kraß enttäuscht wurden.
"Opposition aus Prinzip": Diese Option wäre natürlich die radikalste Strategie, um einer dauerhaften Erpreßbarkeit seitens der SPD aufgrund der These der "geborenen Partnerschaft" zu entkommen. Jenseits freier ökologischer Wählergemeinschaften auf kommunaler Ebene ist das jedoch kaum eine strategische Option für eine politische Partei, welche die dauerhafte und zunehmende Zustimmung der WählerInnen gewinnen will.
"Genscher-FDP". Diese strategische Option besteht aus zwei Elementen: Bereits heute leistet sich Bündnis 90 / Die Grünen einen "virtuellen Vorsitzenden", der sich noch keiner Abstimmung für ein Parteiamt stellen mußte und dem es egal sein kann, wer unter ihm die Parteigremien leitet. Am zweiten Teil arbeiten die jungen grünen Liberalos: Ihre Forderung nach einer Neugründung einer ökolibertären FDP unter dem Label von Bündnis 90 / Die Grüne läuft nicht nur auf den wenig originellen Versuch der Leichenfledderei am lebenden (wenn auch nicht sehr lebendigen) Objekt hinaus. Sie offenbart auch einen akuten Mangel an programmatischer Eigenständigkeit der jungen Nachwuchskräfte. Sollten sie sich durchsetzen, wird eine allgemeine Langeweile der Betroffenen der Erfüllung ihrer Forderung nach einer "teilweisen Auswechselung" der Mitglied- und Wählerschaft zuvorkommen: Sie werden freiwillig verschwinden.
"Erneuerung aus eigener Kraft": Die Bündnisgrünen sichern ihre Existenzberechtigung indem sie ihre Eigenständigkeit und Glaubwürdigkeit als treibende Kraft eines sozialen, ökologischen, gewaltfreien, basis- und geschlechterdemokratischen Reformprojekts wieder herstellen. Diese strategische Option zielt darauf, die tiefe Erschütterung der sozialen, ökologischen, friedenspolitischen und bürgerrechtlichen Glaubwürdigkeit von Bündnis 90 / Die Grünen bei WähleInnen und Mitgliedern zu überwinden. Sie setzt voraus, daß die Bündnisgrünen in der Lage sind, die ursprünglichen Annahmen grüner Strategie, die heute nicht mehr in der Weise gültig sind oder sich als falsch erwiesen haben, zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Dazu gehören die Vision der Erneuerung der grünen Partei aus eigener Kraft. Diese strategische Option hätte den Vorteil, selbstbewußt die Unverzichtbarkeit grüner Politik als eigenständiger gesellschaftlicher Grundströmung unserer Zeit deutlich zu machen - neben Konservatismus, Liberalismus und Sozialdemokratie.
Wir, Mitglieder von Basisgrün - grüne Linke in Bayern, empfehlen eine Strategie der "Erneuerung aus eigener Kraft".
Bei der Durchsetzung einer "Erneuerung aus eigener Kraft" kommt dem basisgrünen und linken Flügel der grünen Partei eine besondere Verantwortung zu: Von ihm muß der Impuls ausgehen, die Eigenständigkeit grüner Politik als Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundströmung weiterzuentwickeln. Die Parteirechte ist dazu offensichtlich nicht in der Lage: Wer - wie deren stiftungsfinanzierten Vordenker - glaubt, die grüne Partei habe nur noch die Wahl zwischen "Sozialdemokratisierung" und "FDPisierung", stellt ihr voreilig den Totenschein aus. Die Grünen hatten längst die zukunftsfähigen Elemente sozialdemokratischer und liberaler Programmatik zu einer eigenständigen Profilierung links von der SPD nutzbar gemacht.
Bausteine für eine Strategie grüner Erneuerung aus eigener Kraft:
Wir, Mitglieder von Basisgrün - grüne Linke in Bayern, erklären:
Wir treten nicht ab – wir treten an!
Textentwurf: Tom Sauer, Sprecher LAK Wirtschaft Bayern, ehem. Mitgliedes des bayerischen Landesvorstandes, KV München-Mitte, E-Mail: Thomas.Sauer@gruene.de
Erstunterzeichner:
Conny Folger, Sprecherin Basisgrün – Grüne Linke in Bayern, KV München - Nord
Uwe Kekeritz, Sprecher Basisgrün – Grüne Linke in Bayern, KV Neustadt/Aisch
Rojhalat Ibrahim, Mitglied des Koordinationsauschusses von Basisgrün – Grüne Linke in Bayern, KV Aichach-Friedberg
Heidi Meinzolt-Depner, Mitglied des Koordinationsauschusses von Basisgrün – Grüne Linke in Bayern, Vorstand Europ. Föd. Grüner Parteien, KV Starnberg
Claudia Roth, MdB, KV Augsburg
Detlef Dobersalske Kreivorstand Rosenheim, KV Rosenheim
Ludwig Wenk, LAK Wirtschaft, KV Nürnberg-Stadt
Markus Sippel, Grüne Jugend München, BGJB, KV München Ost
Martin Ottensmann, KV München-Nord
Kurt Haymann, ehem. Landesvorsitzender Bayern, KV München-Nord
Renate Binder, Kreisvorstand, KV München-Nord
Christoph Zindel-Kostelecky, KV München-Nord
Emanuel Kotzian, Kreisvorstand, KV Nürnberg,
Lydia Dietrich, Vorsitzende des Stadtverbandes München
Martina Wild, KV Augsburg
Angela Heckmaier, KV Freising
Guido Hoyer, Stadtrat, KV Freising
Werner Schmidt, Sprecher LAK Verkehr und Siedlungswesen, KV Fürth-Land
Mathias Striebisch KV Forchheim
Barbara Gies, KV München Nord, Sprecherin LAK Wirtschaft
Ralf Martin, KV München Nord
Markus Ganserer, KV Regen, Grün Alternative Woiperdinger Regen, BGJB
Ulrike Gote, MdL, KV Bayreuth
Werner Graf, KV Neumarkt, BGJ Beisitzer beim LaVo
Johannes Reets, KV München Ost
Dietmar Rückert, KV Neustadt/Aisch
Lili Schlumberger Dogu, KV Dachau, Sprecherin LAK EinwanderInnen und Flüchtlinge
Ex- bzw. Nichtmitglieder:
Stefan Schlags, Bayreuth
Weitere Unterschriften werden erbeten an:
Uwe Kekeritz: Kekeritz@decide.de