DIE WOCHE 43/99, 22. Oktober 1999
Große WOCHE-Umfrage zum Ansehen der Politik
Die Vertrauens-Krise
Der Glaube an die Reformkraft der Parteien schwindet dramatisch -
der Niedergang von Rot-Grün ist nur eine der Ursachen
VON HANS-ULRICH JÖRGES
Vordergründig betrachtet ist alles nur ein Problem der SPD. Die ist im Generalverschiss bei den Wählern, die weiß nicht mehr, ob ihr Herz links oder in der Neuen Mitte schlägt, die treibt jeden Tag eine neue, schrill quiekende Sau durchs amüsierte Medien-Dorf. Gut, die ergrauten Grünen wirken ein wenig hüftsteif, die Liberalen - das kennt man ja - kämpfen wieder mal und immer noch ums Überleben, die PDS weiß nicht so recht, wohin mit der unverhofft gewonnenen Kraft, und selbst die im Völlegefühl ihrer Wahl-Triumphe behaglich schmatzende Union offenbart inzwischen erste Verdauungsstörungen. Aber die große Krise dieses Herbstes, die geht nun mal unbestreitbar zu Lasten der unglücklich regierenden Sozialdemokratie.
Im Kern wahr und doch, wie sich bei näherer Analyse zeigt, zu oberflächlich betrachtet. Denn die Orientierungskrise der Regierung Schröder/Fischer hat sich zur Vertrauenskrise der deutschen Politik ausgewachsen. Nicht allein Rot-Grün ist von Siechtum befallen, das gesamte Parteiensystem offenbart einen Krebsschaden enttäuschter Hoffnungen, verspielter Chancen und verstörender Inkompetenz. Niemand ist mehr frei von Metastasen. Eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa, von der WOCHE zwischen ausklingender Lafontaine-Erregung und anschwellendem Reform-Streit in Auftrag gegeben (und auf den Seiten 6 und 7 im Detail ausgebreitet), zeigt den kollektiven Schaden: Nur noch 9 Prozent der Deutschen haben großes Vertrauen in die Politik, 53 Prozent hingegen geringes; die SPD genießt gerade noch bei 11 (im Osten gar nur bei 6!) Prozent großes Vertrauen, doch auch die CDU/CSU steht mit 21 Punkten bloß vergleichsweise besser da. Die Fähigkeit zur Lösung der drängenden Probleme des Landes spricht die Mehrheit der Befragten den Parteien sogar rundweg ab: 54 Prozent glauben nicht daran, dass es mit den notwendigen Reformen vorangehen wird; und fast die Hälfte der Befragten trauen keiner Partei mehr die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu - nur 20 Prozent der SPD und 27 der CDU/CSU. Wer jetzt noch daran denkt, den Gegner in den kommenden Wochen im Dickicht des Vermittlungsausschusses aufreiben zu können, der spielt mit dem Feuer.
Gewiss: Die Systemfrage ist noch nicht aufgeworfen; das Urteil der Wähler über die Kompetenz der Parteien ist, um es vorsichtig auszudrücken, seit langem verhalten. Doch so viel Misstrauen, so viel Resignation war nie; Lafontaines Revanche-Kampagne hat den Vertrauenspegel noch einmal bei 16 Prozent des Publikums nach unten getrieben. Wie erklärt sich der niederschmetternde Befund der Forsa-Untersuchung?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es für Frustrierte keinen Hafen der Hoffnung, zumindest kein akzeptables Protest-Ventil im Parteiensystem mehr gibt. Früher konnten sich die Grünen an der Enttäuschung über die "Alt-Parteien" mästen - heute gelingt dies höchstens noch der PDS im Osten. Alle präsentieren sich angeschlagen: Keine Partei hat einen geschlossenen Politik-Entwurf, keine kann sich noch auf belastbare ideologische Krücken stützen, alle suchen - bei schwindenden Differenzen untereinander - nach neuer Orientierung. Die Sozialdemokratie tritt dabei einstweilen auf der Stelle, im Wiegeschritt zwischen klassischer Umverteilung und strukturverändernder Modernisierung. Der Streit um die Rente mit 60 und die Vermögensabgabe für Reiche demonstriert diese Unentschlossenheit geradezu modellhaft. Einen Zwangsbeitrag der Jungen für die Früh-Rente der Alten hält die Partei - da gewohnte Umverteilung - für zumutbar; vor der Verpflichtung der Jungen zu privater Vorsorge im eigenen Interesse hingegen schreckt sie zurück - das wäre ja eine Systemveränderung! Auch der Ruf nach einer Vermögensabgabe geht vielen leicht von den Lippen, da übliche linke Symbolpolitik; ein mutiges Steuersystem mit drastisch abgesenkten Sätzen, aber ohne Schlupflöcher und damit de facto gerechter und wirksamer, stößt dagegen auf verbreitetes Misstrauen, weil angeblich symbolhaft neoliberal! Wen wundert, dass solcher Schwindel auch Schwindelgefühle erzeugt?
Aber auch die Konkurrenten geben kein wesentlich überzeugenderes Bild ab. Die CDU, ein Jahr lang stille Nutznießerin des Niedergangs der Koalition, setzt nun keck auf kollektiven Gedächtnisschwund und warnt vor weiteren "drei Jahren Stillstand", als ob Kohls bleierne Jahre schon ganz vergessen wären. Von alternativen Reformkonzepten ist bislang wenig zu hören und die
Lockerungsübungen gegenüber PDS und Grünen produzieren prompt eigene Widersprüche. Die Grünen, die FDP, die PDS? Jeder auf seine Weise ratlos. Joschka Fischer thront nur deshalb an der Spitze der Beliebtheitsskala, weil er seine Ankündigung, in die verminte Innenpolitik zurückzukehren, bislang nicht wahr gemacht hat. Er wäre über Nacht entzaubert.Denn die Richtungssuche der Parteien wird durch radikal veränderte politische Mechanismen auf geradezu dramatische Weise chaotisiert. Die verfassungsmäßigen Organe - Parlamente, Kabinette, Fraktionen - sind de facto entmachtet, Parteigremien bis zur Unkenntlichkeit entkernt - die Meinungsbildung vollzieht sich auf dem Schüttelrost der Medien: Cappuccino-Politik, nur der Schaum zählt. Politik als Handwerk, Politik-Entwürfe aus einem Guss, sorgfältig beraten und von legitimierten Gremien vor ihrer Verkündung beschlossen, gibt es nicht mehr. Ohrenbetäubendes Interview- und Talkshow-Palaver füllt den öffentlichen Raum:
Eitelkeiten, Einzelgänger, Eintagsfliegen. Die Zustimmung der verantwortlichen Instanzen wird, wenn überhaupt, im Nachhinein erbeten - oder gar erpresst.Der Arbeitsminister zum Beispiel einigt sich mit dem IG-Metall-Vorsitzenden und einem Spitzenfunktionär der Versicherungsträger ganz entre nous auf die Rente mit 60 - die SPD verfügt nicht mal mehr über eine Rentenreform-Kommission. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, ein CDU-Reformer vor dem Herrn, schlägt mal eben per Interview die gleitende Heraufsetzung des Rentenalters analog der steigenden Lebenserwartung vor. Auch wenn es hoffnungslos realitätsfremd anmutet: Ein Mindestmaß an medialer Disziplin und die Rückkehr zu strukturierter Sacharbeit hinter verschlossenen Türen sind Bedingungen für die Rückgewinnung von Vertrauen in die Politik.
Wer reformiert, wird abgewählt? Für diese resignative These gibt es bislang nicht die Spur eines Beweises. Wer Reformen zu Ende denkt und vermittelt - nicht verstolpert und zerschwätzt -, der kann auch die Unterstützung der Wähler finden.
© DIE WOCHE Zeitungsverlag 1999
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