Jutta Ditfurth
Schön, wenn Kapitalparteien "erschöpft" wären
ALTERNATIVEN - Eine interventionsfähige soziale GegenmachtParteien "erschöpft"? Törichte Kategorie. Schön, wenn Rotgrün für den ersten deutschen Angriffskrieg nach der Befreiung vom NS-Faschismus zu "erschöpft" gewesen wäre. Zu "erschöpft", um mit der Relativierung von Auschwitz den Krieg zu legitimieren. Zu "erschöpft", um mit Rentenkürzungen und Sozialdemontage die Massenarmut von morgen zu organisieren.
In einer kapitalistischen Gesellschaft - sprich: "parlamentarischen Demokratie" - handelt jede Regierung im Interesse der stärksten(n) und modernste(n) Fraktione(n) des Kapitals. Auch die rotgrüne Regierung. Das schließt Widersprüche mit ein.
Eine zentrale Funktion des bürgerlichen Staates ist die Befriedung sozialen Widerstandes. Die klassischen Methoden sind Repression und Integration. Staatliche Verfolgung und Erschöpfung durch Intensivierung der (Reproduktions-)Arbeit für die einen. Für die anderen Staatsämter, Kommerz und die Love-Parade als modernes Schützenfest.
SPD und Grüne werden von manchen Linken noch für "Linke" gehalten (was ist dann rechts?). Wer zum Beispiel die "Unattraktivität der politischen Kaste" beklagt, trifft mit seiner Kritik nur die Form und hat seinen linken Verstand verloren. Kritik auf diesem Niveau läßt sich mit gut aussehenden, intelligenten, ihr Programm überzeugt vertretenden Faschisten logisch befriedigen.
"Wir meinen's nicht persönlich", sagt das Kapital, "so sind wir nun einmal." Der Widerspruch von Kapital und Arbeit ist ein konstituierender Widerspruch für diese Gesellschaft. Die innerste Triebkraft des Kapitals ist der Profit. Dafür will es möglichst ungehemmt an die beiden "Springquellen" (Marx) allen Reichtums: die menschliche Arbeit und die Natur und will diese seinen Verwertungsinteressen unterwerfen. Wer links sein will, wird begreifen müssen, dass der Kapitalismus nicht reformierbar ist. Das ist keine Frage von Moral, sondern von Erkenntnis.
Zu den größten Erfolgen des Kapitals gehört, dass seine Medien den Menschen eingeredet haben, dass gespart werden muss. Rotgrüne Sprache verändert sich auf Orwellsche Weise: Jeden Angriff auf die Schwächsten und jeden Freifahrtschein für weitere Naturzerstörung nennt man "Reform". Die einstige alternative Kategorie der "Selbstverantwortung" bedeutet aus rotgrünem Mund heute, dass die Versicherungen sich freuen dürfen: Rotgrün verschafft ihnen viele neue zusätzliche private Altersversicherungsverträge. Wir sollen begreifen, dass wir im Alter kein Recht auf eine Rente haben, die ein würdiges Leben sichert. Weil angeblich immer weniger junge Arbeitende für immer mehr Alte sorgen müssen und so weiter und so fort. Selbst sogenannte Linke plappern diesen Schrott nach. Manche lügen, weil sie die herrschenden Verhältnisse nicht in Frage stellen wollen. Weil sie angenehm von ihnen leben. Oder weil sie Angst vor Veränderungen haben.
Der Mensch schafft durch Arbeit Werte (variables Kapital). Die Produktivität der Arbeit wächst unter anderem dadurch, dass er Maschinen schafft und anwendet (konstantes Kapital). In den Maschinen steckt so menschliche Arbeit. Die organische Zusammensetzung des Kapitals wächst, das heißt das konstante zu Lasten des variablen Kapitals. 20 RentnerInnen steht nicht ein einzelner Arbeitender gegenüber, den die maßlosen Ansprüche der Alten fertig machen, sondern ein Mensch, die Maschinen und eine steil angestiegene Arbeitsproduktivität - genug Reichtum für ein richtig gutes Leben für alle - wenn die herrschenden Verhältnisse dieses zuließen. Von dieser Arbeitsproduktivität, von diesem ungeheuren Reichtum, profitiert das Kapital allein. Es hat sich seine Parteien und Gewerkschaften so domestiziert, dass sie seine "Standortinteressen" vertreten als seien es ihre eigenen und sich einbilden, dass - wenn es dem deutschen Kapital gut geht - hin und wieder ein paar Brosamen vom Tisch fallen. Dafür lassen sie zu, dass die Kosten für die sozialen und ökologischen Schäden, die das Kapital anrichtet (Krebserkrankungen, Arbeitslosigkeit etc.) auf die Gesellschaft abgewälzt werden.
Noch nie zuvor gab es einen deutschen Bundeskanzler, der nicht nur von sich selbst sagt, er sei "der Bundeskanzler aller Autos", der einen Krieg führt und schließlich verkündet, seine vordringliche Aufgabe sei es, "die Interessen der deutschen Wirtschaft gegen die Forderungen der Zwangsarbeiter zu schützen". Kein Mitglied der rotgrünen Regierung oder einer der Regierungsparteien hat diese deutschnationale und antisemitische Ungeheuerlichkeit kritisiert. Die Abhängigkeit einer Regierung von Kapitalinteressen so enthemmt zu zeigen, ist neu. Helmut Kohl war diskreter.
Eine interventionsfähige soziale Gegenmacht fehlt. Sie hätte mindestens die Funktion von Notwehr: zu verhindern, dass sich die soziale Lage der Menschen verschlechtert, und dafür zu sorgen, dass sie sich wo immer möglich verbessert. Im besten Fall führt soziale Gegenmacht über die herrschenden Verhältnisse hinaus und hilft, indem sie zur sozialen Revolution transformiert werden kann, die Ausbeutung des Menschen und die Zerstörung der Natur abzuschaffen.
Die linken Grünen von 1980 wussten um die Anpassungszwänge, die die Parteibildung in einer kapitalistischen Gesellschaft mit sich bringt. Dagegen installierten sie basisdemokratische Bremsen gegen Rechtsentwicklung, Opportunismus und Korruption: Trennung von Amt und Mandat, Diätenbegrenzung, Rotation. Diese Regeln funktionierten - deshalb wurden sie abgeschafft.
Parteien sollen Basisproteste filtern und Klassenkämpfe vermeiden. Die Strukturen von Parteien und Parlamenten verändern die in ihnen wirkenden Individuen mehr als umgekehrt. Für emanzipatorische Zwecke lassen sich Parlamente nur unter bestimmten Bedingungen nutzen; die Exekutive, das heißt Regierungen, höchstens in Umwälzungsphasen, wenn linke und linksradikale Oppositionelle mit antikapitalistischen Interessen hineingehen, emanzipatorische Gegenstrukturen mitnehmen und wenn sie loyal mit linken, antikapitalistischen Kämpfen verbunden sind.
Ein menschenwürdiges Leben ist nur in einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit, Geld und Waren vorstellbar - eine Gesellschaft, die Gebrauchsgüter herstellt, ohne diese Herstellung asketisch-zwanghaft zu regulieren, aber auch ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen Wirtschaftens mit seinem Zwang zu Konkurrenz, Egoismus und Ellenbogengesellschaft.
Mögen also bürgerliche Parteien und Regierungen möglichst "erschöpft" sein. Das macht unseren Kampf leichter: gegen Ausbeutung und soziale Ungleichheit, gegen Naturzerstörung, gegen patriarchale Unterdrückung, gegen Faschismus, Rassismus - und darin dem Antisemitismus -, gegen die mörderische kapitalistische Weltordnung und gegen die nächsten imperialistischen Kriege, die das rotgrüne Großdeutschland mit "Menschenrechten" oder "Ökokatastrophen" zu rechtfertigen versuchen wird.