Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.


Bremen, 9./10. Juni
"Strahlenschutz nach der Jahrtausendwende"


Bremer Erklärung

1. Heute ist sicher, dass die Strahlenschutzverordnung der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten ein drastisch unterschätztes Strahlenrisiko zur Grundlage hat. Bereits in der Diskussion um die Novellierung der Strahlenschutzverordnung 1989 wies ein hochrangiger Strahlenschutzberater der Regierung darauf hin, dass aus mehreren Gründen der Grenzwert für beruflich strahlenex-ponierte Personen um einen Faktor fünf bis sechs auf 10 Millisievert pro Jahr gesenkt werden müsste .
Tatsächlich blieb der Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen von der ersten Fassung der Strahlenschutzverordnung aus dem Jahre 1960 an bis zum Jahr 2000 unverändert auf dem Wert von 50 Millisievert pro Jahr.
Ebenso unverändert blieb das "30-Millirem-Konzept" zum Schutz der Bevölkerung vor radioaktiven Ableitungen aus kerntechnischen Anlagen über Luft und Wasser.
Es geht auf Empfehlungen von Ende der 50er Jahre zurück, als man bei Strahlenfolgen ausschließlich an mögliche genetische Schäden dachte. Seither wurde das "30-Millirem-Konzept" nicht verbessert.

Wir wissen heute, dass in der bisherigen Geschichte der Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland den Arbeitnehmern und der Bevölkerung ein mindestens zehnmal höheres Risiko zugemutet wurde als die Vertreter von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik offiziell einzugestehen bereit waren. Würde man sich nicht vorwiegend auf die Daten von Hiroshima und Nagasaki stützen sondern die neueren Studien über Nukleararbeiter stärker berücksichtigen, käme man auf noch höhere Risikowerte.

2. In dem vorgelegten Entwurf der Strahlen-schutzverordnung 2000 werden erstmalig die Grenzwerte verändert.
Der Grenzwert für beruflich strahlenexponierte
Personen soll von 50 auf 20 Millisievert pro Jahr gesenkt werden. Auf den ersten Blick mag das als Verbesserung gelten. Gemessen daran, dass seit weit über zehn Jahren als "Stand der Wissen-schaft" ein mehr als zehnfach unterschätztes Strahlenrisiko unstrittig ist, bedeutet die vorgeschlagene Senkung um nur den Faktor 2,5 erneut eine Missachtung der bestehenden Erkenntnisse, vor allem aber eine Mißachtung des grundgesetz-lich garantierten Rechtes "auf Leben und körperliche Unversehrtheit".
Im Unterschied zu den frühen Jahren der Kernenergienutzung kann sich heute niemand mehr hinter Unwissenheit verstecken. Wenn die Verfassung, das Atomgesetz und die bisherige Strahlenschutzverordnung ernstgenommen werden und endlich der heutige Stand von Wissenschaft und Technik umgesetzt wird, dann muss mindestens eine Senkung des Grenzwertes für beruflich strahlenexponierte Personen von bisher 50 auf 5 Millisievert pro Jahr festgesetzt werden.

3. Die Fehleinschätzung des Risikos durch eine industriefreundliche Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in Ost und West hat dazu beigetragen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland heute mehr als 30.000 anerkannte Fälle von Berufskrankheiten gibt, die durch Arbeiten im Bereich der Atomindustrie unter mangelhaften Schutzbestimmungen und Schutzmaßnahmen hervorgerufen wurden. In der Praxis kann insbesondere das Verfahren der Anerkennung von strahlenbedingten Berufskrankheiten nur als zynisch und menschenverachtend eingeschätzt werden.
Inzwischen ist unstrittig, dass neben anderen Umweltbelastungen Strahlenbelastungen Krebserkrankungen hervorrufen können. Es liegt in der Natur dieser Schädigungen, dass nur in seltenen Ausnahmefällen exakt nachgewiesen werden kann, welche Ursache in einem konkreten Fall für den Krebs verantwortlich ist. Entscheidungen über die Anerkennung strahlenbedingter Berufskrankheiten beinhalten also in jedem Fall das Risiko, eine Fehlentscheidung zu treffen. Wenn auf der einen Seite ein schwerkranker Arbeitnehmer und auf der anderen Seite eine mächtige Industrie steht, dann verwundert nicht, wie viele solcher Anerkennungsverfahren sich über Jahre hinziehen, durch mehrere Instanzen gehen, mit Ablehnung enden oder erst nach dem Tod des Antragstellers entschieden werden.
Wir weisen darauf hin, dass in den USA heute von Wissenschaftlern des Department of Energy und anderen amtlichen Stellen der US-Bundesregierung einschließlich der Environmental Protection Agency (EPA), des Center for Disease Control (CDC) und des Department of Defense (DOD) das hohe Risiko für Nukleararbeiter zugestanden wird (Bericht des National Economic Council, Januar 2000). Alle diese genannten amtlichen Stellen tragen Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Volksgesundheit. Der Energieminister geht sogar soweit, eine Entschädi-gungszahlung von bis zu 100.000 US$ für die geschädigten Arbeiter oder deren geschädigte Familien vorzuschlagen. "Nun wird endlich Ver-antwortung übernommen, nachdem über 50 Jahre jede Verantwortung von den Regierungsbehörden abgestritten wurde. Das offizielle Zugeständnis ist gleichzeitig eine erschreckende Anklage gegen das Niveau der ethischen und wissenschaftlichen Integrität von führenden Mitgliedern des mächtigen wissenschaftlich-medizinisch-industriellen Establishments" (R. Nussbaum), die die Nukleararbeiter, die Bevölkerung und die Politiker wissentlich über das Ausmaß der bestehenden Risiken täuschten.

Wir fordern mit allem Nachdruck, in der Bundesrepublik Deutschland die Verfahrensweise bei der Anerkennung strahlenbedingter Berufskrankheiten in Anerkennung der Mitverantwortung für die Fehleinschätzungen in der Vergangenheit und deren Folgen grundlegend zu verändern. Wenn jemand das Risiko einer Fehlentscheidung in solchen Verfahren ertragen kann, dann ist es die Industrie - nicht aber ein todkranker Arbeitnehmer und dessen Familie.

Wir schlagen deshalb vor, dass alle Erkrankungen, die durch Strahlenbelastungen hervorgerufen werden können, ohne weitere Überprüfungen als Berufskrankheiten anerkannt werden, wenn der Arbeitnehmer in seiner gesamten Berufstätigkeit mit mehr als dem Zweifachen des Jahresgrenzwertes für beruflich strahlenexponierte Personen belastet worden war. Aus Gründen der Fairness und der Wiedergutmachung muss eine solche Neuregelung eine Wiederaufnahme aller bisher negativ entschiedener Anerkennungsverfahren umfassen.

4. Mit der näherrückenden Stillegung von kern-technischen Anlagen und ihrem Abriss kommen auf die Betreiber Kosten zu. Es ist unverständlich, dass erst jetzt im Detail Festlegungen zum Um-gang mit dem anfallenden Atommüll getroffen werden. Es überrascht nicht, dass die Betreiber auf Regelungen drängen, die eine billige Entsorgung des kontaminierten Mülls ermöglichen.
Aus der Sicht der Bevölkerung, der Medizin und des Strahlenschutzes ist es jedoch absurd und inakzeptabel, zuzulassen, dass radioaktiv belasteter Müll mit niedrigem Aktivitätsniveau in großen Mengen für immer aus der Überwachung herausgenommen und verteilt werden soll, um dann Stück für Stück dazu beizutragen, die Strahlenbelastung der Bevölkerung zu erhöhen. Niemand wird in der Lage sein, die schleichende Vergiftung, die über Generationen andauern wird, im Einzelfall nachzuweisen. Es wird keine unbelastete Kontrollgruppe mehr geben, an der man diesen Vergiftungsprozess messen könnte.

Die bisherige Geschichte des Strahlenschutzes war eine Geschichte von Fehleinschätzungen, Ignoranz und Zynismus gegenüber den Opfern. Niemand kann heute garantieren, dass die Einschätzungen des Strahlenrisikos nicht noch weiter ansteigen. Was heute zwar nicht schön, aber auch nicht allzu gefährlich aussieht, kann sich morgen schon als schwerer Fehler erweisen, der dann nicht mehr behoben werden kann.

Es besteht nicht die geringste Veranlassung für die Bevölkerung, zusätzlich zum vollen Risiko einer Atomkatastrophe auch noch freiwillig die Risiken einer billigen und deshalb unsicheren Unterbringung des Atommülls zu übernehmen.

5. Wir gehen nicht davon aus, dass eine neue Regierung mit einem Schritt alle Fehler der Vergan-genheit korrigieren, die Interessen der Bürger wahrnehmen und dabei die Interessen der Atomindustrie vollständig ignorieren könnte.
Wir erwarten jedoch von ihr eine klare Beschreibung der Situation: Was wurde in der Vergangenheit falsch gemacht und falsch eingeschätzt? Was soll nun geändert werden? Was kann erst später angegangen werden, weil die Kraft zu mehr nicht ausreicht?

6. Wir gehen bei unserer Einschätzung zur Situation der Bevölkerung und der Arbeitnehmer von den gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung aus. Die sich auf diesem Wege ergebenden Schlußfolgerungen sind sehr weitgehend und unbequem. Wir sind bereit, an der Gestaltung der Strahlenschutzverordnung mitzuarbeiten.


Bremen, 9./10. Juni
"Strahlenschutz nach der Jahrtausendwende"

Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.,
Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident, Email: pflugbeil.kvt@t-online.de