MdB Christian Ströbele

Pressemitteilung

27.11.99

Wider den Mißbrauch der Juristerei
Der Atomaustieg bis 2002 ist machbar.

Es droht ein Atomausstiegsgesetz mit 30 Jahren Laufzeit und einer Übergangsfrist von 3 Jahren. In dieser Legislaturperiode soll kein einziges AKW vom Netz müssen. Zwar wäre für zwei AKWs die dreißigjährige Laufzeit in diesem bzw. im nächsten Jahr abgelaufen, aber abgeschaltet werden soll erst ein Jahr nach der nächsten Bundestagswahl im, Jahr 2002.

Im Wahlprogramm haben wir versprochen alle administrativen, wirtschaftlichen und legislativen Mittel wie ein Atomausstiegsgesetz zu nutzen, um die Forderung nach einem sofortigen Atomaustieg umzusetzen .

Von "sofort" im Wortsinn ist schon lange keine Rede mehr. Aber "deutlich unter 30 Jahren" und "die ersten AKWs müssen in dieser Legislaturperiode vom Netz", das sollte es nach allen Verlautbarungen der letzten 12 Monaten schon sein.

Jetzt sollen es zwingende Gründe des Verfassungsrechts sein, die einer Realisierung der eingeschmolzenen Forderung entgegenstehen. Das stimmt nicht. Juristische Bedenken müssen herhalten, weil es politisch paßt.

Schon die 30-Jahre-Frist für die Laufzeit ist aus juristischen Gründen nicht zwingend. Nirgends, in keiner Verfassung, keinem Gesetz oder juristischen Lehrsatz steht, daß es nicht 29 oder 31 sein können. Die Zahl dreißig ist ein angenommener Ungefährwert. In ca 30 Jahren sollen sich die Investitionen rentiert haben, die Abschaltung damit keine Enteignung sein. Es könnten auch 25 oder 35 Jahre sein.

Noch weniger objektiv und verfassungsrechtlich sicher bestimmbar ist die Dauer der Übergangsfrist. Ein professurales Gutachten geht von 1 bis 3 Jahren aus, die einem AKW-Betreiber gelassen werden müssen, um sich auf die veränderte Lage einzustellen. In Ministerien wird auch die Zahl 5 oder 2 Jahre genannt, je nach Interessenlage. Die Frage ist nicht nur nach juristischen Kriterien, Gesetzen oder Rechtssätzen zu entschieden, sondern mindestens genauso entlang technischer und ökonomischer Fragen. An der Spekulation, welche Frist für die AKW-Betreiber Vertrauensschutz und Grundgesetz fordern, kann sich prinzipiell jeder beteiligen. Auf der verfasssungsrechtlich sicheren Seite sind wir auch dann nicht, wenn die Höchstdauer aus dem letzten Gutachten, also 3 Jahre, ins Gesetz geschrieben wird. Kein Professor schützt uns davor, daß das Gericht nachher fünf Jahre für angemessen erklärt.

Völlig offen ist auch, wann die Übergangsfrist zu Laufen beginnt. Erst mit Inkrafttreten des Ausstiegsgesetzes oder schon früher etwa mit Bildung der rot/grünen Koalition ? In der vergangenen Woche hatten die Verfassungsrichter Vertrauensschutz für Nutzer von Grundstücken in der DDR verneint ab dem Tag der Entmachtung von Erich Honeckers. Von diesem Zeitpunkt an hätten alle wissen können, daß die Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse der DDR keinen Bestand mehr haben würden.

Nach dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl aber spätestens nach Veröffent-lichung der Koalitionsvereinbarung wußten die AKW-Betreiber, daß es mit dem Teufelszeug zuende gehen sollte. In unzähligen Verlautbarungen der rot/grünen Bundesregierung, des Kanzlers und von Ministern wurde bekräftigt, der Ausstieg aus der Kernenergie kommt bald. Fraglich konnte nur sein, das Wann und Wie. Vertrauen auf die weitere Nutzung der Kernenergie konnte niemand mehr ab Oktober 1998. Selbst eine dreijährige Vertrauensschutzfrist wäre im Herbst 2oo1 abgelaufen, unabhängig vom Inkrafttreten des Gesetzes. Die ersten AKWs könnten in dieser Legislaturperiode vom Netz gehen.

Die Angst vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist unbegründet. Es ist offen, ob das höchste Gericht sich in die politische Frage des Ausstieges aus der Nutzung der Kernenergie überhaupt einmischen wird. Dies vor allem fraglich, wenn dem Eigentumsrecht der AKW-Betreiber durch eine sehr lange Laufzeit der AKWs im Gesetz Genüge getan ist. Das Gericht hat immer wieder betont, daß die politischen Fragen in dieser Republik vom Gesetzgeber zu entscheiden sind. Es hat Regierung und Parlament einen weiten Spielraum gelassen. Nur klare Verstöße gegen die Verfassung sollten zur Aufhebung von Gesetzesvorschriften führen. Auch würde nicht das ganze Gesetz für nichtig erklärt, sondern allenfalls eine konkret angefochtene Bestimmung. Beim Atomausstiegsgesetz käme die Länge der Fristen in Betracht. Wäre es schlimm, wenn in dieser Frage, in der fünf sachverständige Gutachter fünf verschiedene Fristen nennen, das Verfassungsgericht eine andere Auffassung vertritt als die Parlamentsmehrheit ?

Wenn die AKW-Betreiber ihre Drohung, gegen ein Atomausstiegsgesetz Verfassungsbeschwerde einzulegen, überhaupt wahr machen, dann käme es wohl im schlimmsten Fall zu einer Verlängerung von Fristen. Es gibt wahrlich Schlimmeres für Rot/Grün. Eine Schadensersatzforderung in Milliardenhöhe, die immer wieder beschworen wird, käme überhaupt nicht in Betracht. Die AKWs, die als nächste vom Netz gehen sollen, laufen weiter, während die Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Solange entsteht gar kein Schaden. Das finanzielle Risiko ist nicht höher als die Kosten der Verfassungsbeschwerde.

In Fragen von wesentlicher gesellschaftliche Bedeutung ist eine Entscheidung des höchsten Gerichts innerhalb von zwei Jahren zu erwarten. Bevor das erste AKW stillgelegt würde, könnte die Grundsatzfrage entschieden sein. Sie würde eine verfassungsrechtlich sichere Basis für eine weitere Ausstiegspolitik schaffen.

Die FDP hat mal gegen die eigene Regierung das Verfassungsgericht bemüht, um Rechtssicherheit zu erlangen. Es ging um die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Kein Grüner will ein Atomaustiegsgesetz der eigenen Regierung in Karlsruhe anfechten. Aber fürchten müssen wir eine Entscheidung des Verfassungsgerichts auch nicht. So der so nicht.

Wenn wir nur das politisch Richtige tun und ins Gesetz schreiben. Dann können wird uns nicht blamieren, nicht politisch und nicht verfassungsrechtlich.

Das Richtige ist, die ersten AKWs gehen spätesten 2002 vom Netz.

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