Atomstrom 2000: Sauber, sicher, alles im Griff?
Aktuelle Probleme und Gefahren bei deutschen Atomkraftwerken


Kurzfassung


Verfasser: Dr. Helmut Hirsch
Unter Mitarbeit von Oda Becker

 


Erstellt im Auftrag des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.)
Im Rheingarten 7,
53225 Bonn

Hannover, im November 1999


Vorbemerkung
Der Ausstieg aus der Atomenergie wird permanent öffentlich diskutiert Der Atomwirtschaft ist es aber gelungen, die Inhalte der Diskussion weitgehend zu bestimmen. Nach ihrem Willen geht es nur um wirtschaftliche Fragen und der Ausstieg wird als ein absurdes, rein ideologisch motiviertes Vorhaben dargestellt, das mit "Kapitalvernichtung", also mit hohen Unkosten verbunden sei.

Die Regierung stellt dem nichts entgegen. Im Rahmen der "Konsensgespräche" wird darüber verhandelt, welche Laufzeiten für die Betreiber noch wirtschaftlich tragbar sind. Wirkliche Zugeständnisse von Betreiberseite sind hier nicht zu erwarten. Dafür soll die Regierung die gesicherte "Entsorgung" gewährleisten, sowie einen noch pfleglicheren Umgang der Aufsichtsbehörden mit den AKW-Betreibern.

Völlig unter den Tisch fällt dabei, dass mit der Nutzung der Atomenergiegroße Gefahren verbunden sind - der entscheidende Grund dafür, den Ausstieg zu fordern.
Hier setzt die vorliegende Studie an. Es wird an Beispielen gezeigt, dass auch deutsche Atomkraftwerke nicht sicher sind: Ihr Risiko ist nicht bloß rein hypothetisch, wie unter anderem real existierende Schwachstellen und Mängel bei verschiedenen Anlagen beweisen.

Im Rahmen von fünf Fallstudien werden insgesamt acht Atomkraftwerke behandelt. Das bedeutet nicht, dass die anderen 11 als ausreichendsicher zu betrachten sind - ganz im Gegenteil. Es ist aber nicht Aufgabe der Umweltverbände, die fachliche Aufsicht über alle deutschen Atomanlagen im Detail wahrzunehmen. Durch das beispielhafte Aufzeigender Gefahren soll den zuständigen Behörden auf die Sprünge geholfen werden.

Fallstudie 1: Atomkraftwerk Biblis
Nach einer Beinahe-Katastrofe 1987 in Block A 1 wurde dieser überprüft.Die Aufsichtsbehörde forderte anschließend zahlreiche Nachrüstungen. Bis heute wurde davon fast nichts umgesetzt, weil die Betreibergesellschaft RWE, unterstützt von der früheren Bundesregierung, alles tat, um diese Arbeiten zu blockieren. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die fehlende Notstandswarte, ein Defizit, das beide Blöcke betrifft. AlleAltanlagen außer Biblis sind in Deutschland mit einer Notstandswartenachgerüstet worden.

Schwere Mängel bestehen im Block A außerdem beim Schutz gegen Erdbeben. Kabel sind nicht erdbebensicher verlegt, hunderte Halterungen von Rohrleitungen und Armaturen (Ventile, Schieber u.ä.) müssten ertüchtigt bzw. ausgetauscht werden. Die Schwachstellen ziehen sich durch die gesamte Anlage und finden sich bei allen wichtigen Systemen.

Dabei wurde bisher von einem Erdbeben der Stärke 7,75 auf der Medvedev-Sponheuer-Karnik-Skala (MSK-Skala) ausgegangen. Wahrscheinlich reicht diese Annahme aber nicht aus. Zur Zeit laufen neue Untersuchungen, die noch nicht abgeschlossen sind. Das Hessische Umweltministerium ging Anfang April 1999 davon aus, dass diese Untersuchungen wahrscheinlich dazu führen werden, dass ein stärkeres Erdbeben angenommen werden muss. Damit würden die Defizite nochschlimmer werden; auch die Sicherheitsnachweise von Block B müssten neugeprüft werden.

Untersuchungen von Erdbebenstärken sind stets mit großen Ungenauigkeiten behaftet. Dem muss bei allen Festlegungen durch konservatives, d.h. auf der sicheren Seite liegendes Vorgehen Rechnung getragen werden. Es ist zu befürchten, dass die neue Hessische Landesregierung diesen Grundsatz nicht beachten und so den Weiterbetrieb von Biblis ermöglichen wird.

Bemerkenswert ist noch, dass die beiden heute im Bundesumweltministerium(BMU) für die oberste Atomaufsicht im Bund zuständigen Beamten identisch sind mit jenen, die bis vor kurzem und jahrelang im Hessischen Umweltministerium für Biblis verantwortlich waren und in dieser Funktion die Stilllegung von Biblis A angestrebt haben - und zwar aus gewichtigen Gründen: Die Mängel des Reaktors wurden als Gefahr im Sinne des § 19Atomgesetz bewertet, was eine Stilllegung zwingend macht.

Es ist daher unverständlich, dass das BMU die Hessische Landesregierung nicht schon längst angewiesen hat, Biblis A stillzulegen.

Fallstudie 2: Atomkraftwerk Krümmel
Seit 1990 werden in der Umgebung von Krümmel gehäuft Leukämiefälle bei Kindern festgestellt. Insgesamt sind es bis heute 11 Fälle, weit mehr, als rein statistisch zu erwarten wären. Das Auftreten der Leukämiefälle begann etwa 6 Jahre nach der Aufnahme des Betriebs im Atomkraftwerk Krümmel. Das Maximum der Erkrankungsrate bei Leukämie tritt 4 bis 8Jahre nach Strahlenexposition auf. Ernst zu nehmende Erklärungen für die gehäuft auftretenden Leukämiefälle in der Umgebung von Krümmel, die von einer anderen Ursache als dem Atomkraftwerk ausgehen, gibt es bisher nicht einmal im Ansatz.

Gleichzeitig sind sich Fachleute aber weitgehend einig darüber, dass die Strahlenbelastungen in der Umgebung des AKW, die aus den offiziellen Ergebnissen der Emissions- und Immissionsüberwachung abgeleitet werden können, weit unterhalb jener Dosen liegen, die zu Leukämie führen könnten.

Daher konzentrieren sich die Untersuchungen auf die Frage, ob es einen Weg gibt, auf dem größere Mengen radioaktiver Stoffe an den Überwachungsmessungen vorbei in die Umgebung gelangen könnten. Ein Gutachten von 1994 verneinte diese Frage kategorisch. Es zeigte sich jedoch bald, dass diese Einschätzung nicht ausreichend begründet war. Es dauerte bis zum Jahre 1997, bis das Land Schleswig-Holstein weitere Untersuchungen in Auftrag gab. Diese Arbeiten, an denen drei Sachverständigenorganisationen beteiligt sind, sollen die Frage nach den unkontrollierten Emissionen definitiv klären. Sie sollten zunächst schon1998 abgeschlossen sein, liegen aber im November 1999 immer noch nicht vor.

Belastbare Ergebnisse liegen also von offizieller Seite nicht auf dem Tisch. Dabei gibt es eine Freisetzungsmöglichkeit, die bisher in der Diskussion keine Rolle gespielt hat:
Relativ große radioaktive Partikel, sogenannter Crud, könnten aus dem Kühlwasser des Reaktors in die Abluft des Maschinenhauses gelangt sein.

Dieses wird vor der Abgabe durch den Kamin nicht mehr gefiltert. Es gibt zwar eine Kontrolle durch Entnahme von Proben aus dem Luftstrom. Diese Kontrolle ist jedoch auf kleinste Schwebstoffe ausgerichtet, die in sehrgroßer Zahl auftreten und daher auch schon durch sehr kleine Stichprobenrepräsentativ erfaßbar sind. Es ist möglich, dass die großen Crud-Teilchen von dieser Kontrolle nicht erfasst werden. Schon eineinzelnes Teilchen kann bei einem Kleinkind zu Strahlenbelastungen führen, die Leukämie hervorrufen können (10 mSv und mehr).

Bekannt wurde das Crud-Problem im Mai 1998 im Zusammenhang mit der Kontamination von Transportbehältern und Waggons bei Transporten abgebrannter Brennelemente nach Frankreich und England. Es ist unverständlich, warum nicht schon längst Studien dieses Problems mit Bezug auf die Leukämiefälle auf dem Tisch liegen.

Noch unverständlicher ist allerdings, dass die Prüfungen bisher schon fast ein Jahrzehnt gedauert haben und dass während dieser gesamten Zeit das Atomkraftwerk Krümmel weiter am Netz bleiben konnte. Es stellt sich die Frage, was alles geschehen muss und wie konkret die Verdachtsmomente gegen eine kerntechnische Anlage sein müssen, bevor es zu einer Stilllegung kommt.

Fallstudie 3: Atomkraftwerk Obrigheim
Obrigheim ist das älteste der noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke und läuft seit rd. 30 Jahren. Es ist ein Unikat, mit vielen besonderen Merkmalen und Schwächen. So ist es z.B. die einzige Anlage in Deutschland, deren Kühlkreislauf nur über zwei Stränge verfügt.

Von den zahlreichen Defiziten des Atomkraftwerkes Obrigheim wird in der vorliegenden Studie ein besonders gravierendes Beispiel näher behandelt. Im Gegensatz zu allen anderen deutschen Atomkraftwerken sind die Notkühlsysteme in Obrigheim nicht in der Lage, den vollständigen Abriss der Hauptkühlmittelleitung (sogen. 2F-Bruch) zu beherrschen. Dies ist ein Problem, das Obrigheim mit den ältesten Reaktoren sowjetischer Bauart in Mittel- und Osteuropa teilt.

Der "Ausweg" aus diesem Problem, das noch 1977/78 von offiziellen Gutachtern bestätigt wurde, lag in der Anwendung des Bruchausschlußprinzips: Gut zehn Jahre später wurde postuliert, dass ein Bruch der Hauptkühlmittelleitung auszuschließen sei. Begründet wurde dies mit der Qualität des eingesetzten Werkstoffes und der strengen Überwachung während des Betriebes.

Ein solcher pauschaler Bruchausschluss ist selbst bei modernen Anlagen sehr problematisch. Er wird als Sicherheitsnachweis daher international auch keineswegs in allen Ländern akzeptiert. In Frankreichbeispielsweise wird dieser Nachweis zur Zeit noch geprüft. Bei Altanlagen wie Obrigheim ist er nicht verantwortbar.

Die Bauteile dieser Anlage wurden zu einer Zeit gefertigt, als die Anforderungen an Werkstoffe erheblich weniger streng waren als heute. Sie entsprechen nicht dem heute gültigen kerntechnischen Regelwerk. Dazukommt der Qualitätsverlust durch Alterung und Ermüdung. Als Probe für die Hauptkühlmittelleitung lagen lediglich bereits 1983 ausgebaute Rohrstücke vor. Überdies besteht die Hauptkühlmittelleitung aus verschiedenen Werkstoffen, die nicht alle beprobt wurden. Es ist auch noch ungeklärt, inwieweit sich Erkenntnisse aus Probenexperimenten überhaupt auf das Verhalten der realen Komponenten im Reaktorbetrieb und gerade auf die zusammengestückelte Hauptkühlmittelleitung übertragen lassen.

Die Vorschriften wurden jedoch so flexibel interpretiert, dass im Zusammenspiel zwischen dem Betreiber, den Spitzen der Aufsichtsbehörde, dem TÜV als Behördengutachter und der Reaktorsicherheitskommission der "Nachweis" des Bruchausschlusses dennoch geführt werden konnte. Die Einwände des zuständigen Fachbeamten im Baden-Württembergischen Umweltministerium, der bei diesem Spiel nicht mitmachen wollte und in einem internen Bericht auf die mangelhafte Qualität der in Obrigheim verwendeten Werkstoffe hinwies, wurden dabei ignoriert.

Den Fachleuten von Behörde und Betreiber gelang es schließlich sogar noch, zu beweisen, dass der 2F-Bruch vom Notkühlsystem doch beherrscht wird. Dabei wurde allerdings nicht, wie sonst aus gutem Grund üblich, konservativ vorgegangen. Es wurde lediglich eine "best-estimate"-Berechnung durchgeführt. Eine solche Analyse liegt nichtsystematisch auf der sicheren Seite. Damit wird den bei solchen Untersuchungen zwangsläufig immer gegebenen Ungenauigkeiten und Unwägbarkeiten nicht Rechnung getragen. Es ist ein Sicherheitsnachweis, der diesen Namen nicht verdient.

Fallstudie 4: Atomkraftwerk Stade
Das AKW Stade, die zweitälteste deutsche Anlage nach Obrigheim, weist ebenfalls mehrere Schwachstellen auf. Verschiedene Systeme wurden im Laufe der Jahre nachgerüstet. Als wichtigstes Sicherheitsdefizit bleibt die sehr starke Versprödung des Reaktordruckbehälters. Dieser enthält als Herzstück der Anlage den hochradioaktiven Kernbrennstoff; sein Versagen kann durch Sicherheitssysteme in keinem Fall beherrscht werden.

Die Versprödungsprobleme, besonders bei einer Schweißnaht an einerkritischen Stelle des Reaktordruckbehälters, sind schon lange bekannt.Die Gutachter der Aufsichtsbehörde hatten dennoch Jahr für Jahr die Sicherheit des Behälters bestätigt. Neu hinzugezogene Sachverständige legten jedoch 1994 Ergebnisse vor, die belegten, dass die Situation erheblich schlimmer war als bisher bekannt: Die Versprödung war möglicherweise sehr viel weiter fortgeschritten als bisher angenommen, und bei Störfallbetrachtungen waren in den früheren Gutachten nicht die für ein Durchreißen des Reaktordruckbehälters schlimmsten Fälle untersucht worden.

Fazit der neuen Gutachter: Der Sicherheitsnachweis für den Druckbehälter weist schwerwiegende Lücken auf, die dringend und rasch weiteruntersucht werden müssen. Es war klar, dass die Stilllegung drohte, falls sich ein Schließen der Lücken als unmöglich herausstellen sollte.

Die Niedersächsische Aufsichtsbehörde leitete in der Tat umfangreiche Untersuchungen ein. Entscheidender Schönheitsfehler: Jene Sachverständigen, die die Lücken des Sicherheitsnachweises gefunden hatten, wurden dazu nicht herangezogen. Federführend war vielmehr der TÜV-Norddeutschland, der jahrzehntelang die Nachweise der Betreiberabgesegnet hatte. Die Eigentümerin PreussenElektra hatte sich in einem Gerichtsverfahren erfolgreich gegen die - bei derartigen Gutachtenallgemein übliche - Übernahme der Kosten für die 1994 vorgelegten Arbeiten gewehrt. Das Niedersächsische Umweltministerium wollte unter diesen Umständen, gegen Empfehlung des eigenen Fachbeirates, keinen weiteren Konflikt riskieren.

Nach vierjähriger Arbeit war es dem Gutachterteam des TÜV dann gelungen, den Sicherheitsnachweis zu "reparieren". Dabei wurden u.a. neue Probenherangezogen, deren Repräsentativität allerdings ebenso fraglich blieb wie die des früheren Probematerials. Das Endergebnis kann nichtüberraschen. Es war kaum zu erwarten, dass der gleiche TÜV, der die Lücken im Sicherheitsnachweis lange Zeit übersehen hatte, ihre Bedeutung bestätigt und sich damit selbst grobe Nachlässigkeit bei seiner bisherigen Arbeit bescheinigt ...

Ein vergleichbarer Fall in den USA führte Anfang der 90er Jahre zur Stilllegung des betroffenen Atomkraftwerkes: Die Anlage in Yankee Rowe,ein alter Druckwasserreaktor, wurde 1992 stillgelegt, nachdem die U.S.-Genehmigungsbehörde NRC hohe Anforderungen an den Sicherheitsnachweis gestellt hatte und die Betreiber gar nicht erstversuchten, sie zu erfüllen.

Fallstudie 5: Siedewasserreaktoren der Baulinie '69

Von der Baulinie '69 sind noch die Anlagen Brunsbüttel, Isar-1,Philippsburg-1 und Krümmel in Betrieb. Die drei erst Genannten haben etwa die gleiche Leistung und sind in der Auslegung sehr ähnlich; sie stehen deshalb hier im Vordergrund.

Kein anderer Reaktortyp in Deutschland war dermaßen von Pannen geplagt wie die Baulinie '69. Das Atomkraftwerk Brunsbüttel ist Rekordhalter unter allen deutschen Atomkraftwerken: Allein die ungeplanten Stillstandszeiten von über einem Jahr Dauer summieren sich auf insgesamt sechseinhalb Jahre. Die Erfahrungen in Isar-1 und Philippsburg-1 waren nicht viel besser.

Meist ging es dabei um Probleme mit Werkstoffen; hunderte Meter Rohrleitungen mußten ausgetauscht werden. Pannen betrafen aber auch wichtige Ventile, die Regelung des Reaktors, Notstromgeneratoren und andere Bauteile.

Ein potentiell noch wichtigeres Problem ist mit der grundlegenden Bauweise der Reaktoren der Baulinie '69 verbunden: Bei einem schweren Unfall mit Kernschmelzen kommt es praktisch zwangsläufig innerhalb eines Zeitraumes von drei Stunden bis zu etwa einem Tag zum Durchschmelzen des Sicherheitsbehälters. Das bedeutet besonders schwere frühzeitige radioaktive Freisetzungen.

Die Containments der anderen deutschen Atomkraftwerke weisen diese Schwachstelle nicht auf. Auch bei ihnen ist jedoch ein frühzeitiges Versagen bei einem Kernschmelzunfall möglich.

Eine Untersuchung der Folgen von Unfällen in Brunsbüttel und Krümmel für die Stadt Hamburg zeigte die Notwendigkeit weiträumiger Evakuierungen im Stadtgebiet auf. Solche Maßnahmen, die selbst unter günstigsten Umständen sehr schwierig sind, wären aber angesichts der kurzen Vorwarnzeiten unter den gegebenen Umständen völlig aussichtslos. Diese Ergebnisse sind auf die anderen Anlagen der Baulinie '69 übertragbar.

Als Gegenargument wurde ins Treffen geführt, Unfallabläufe mit Kernschmelzen seien derart unwahrscheinlich, dass mit ihnen praktisch nicht gerechnet werden müßte. Die dauernden Pannen und Störfälle, die die Anfälligkeit der Reaktoren zeigen, widersprechen dem jedoch .Außerdem sind die Ergebnisse von Wahrscheinlichkeitsberechnungen für Unfälle nicht seriös belastbar. Sie enthalten viele Ungenauigkeiten und können nicht alle Einflußfaktoren berücksichtigen.

Die Atomgesetznovelle 1994 fordert für neue Atomkraftwerke in Deutschland die Beherrschung von Kernschmelzunfällen. Keine der derzeit laufenden Anlagen erfüllt diese Anforderungen. Die Siedewasserreaktorender Baulinie '69 sind davon am weitesten entfernt.

Schlussbemerkungen

Wie ist es möglich, dass trotz der offensichtlichen und gravierenden Probleme und Risiken in Deutschland weiter Atomkraftwerke betrieben werden können, ja, dass von Seiten der Atomwirtschaft (und großen Teilender Politik) auch weiter versucht werden kann, ein Image der Atomenergie als "sicher und sauber" aufzubauen und aufrechtzuerhalten?

Aus den hier untersuchten Fallbeispielen können folgende Missständeabgeleitet werden, die die Praxis der Atomenergie kennzeichnen:

1. Bei der Untersuchung von Gefahren wird nicht durchgängigkonservativ vorgegangen, d.h. es wird nicht so gearbeitet, dass alle Ergebnisse grundsätzlich auf der sicheren Seite liegen.

2. Erkenntnisse und Faktoren, die den Sicherheitsnachweiserleichtern, werden relativ unkritisch übernommen. Effekte, die Nachweise erschweren bzw. in Frage stellen, werden ignoriert oder wegdiskutiert.

3. Schwächen in der Auslegung von Atomkraftwerken werden mit dem Hinweis auf sehr niedrige Eintrittswahrscheinlichkeiten von Unfällen als irrelevant dargestellt, obgleich die in Studien ermittelten Wahrscheinlichkeiten nicht belastbar sind.

4. Die Betreiber von Atomkraftwerken haben sehr weitgehende Einflussmöglichkeiten bei der Auswahl der Gutachter durch die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden.

5. Wenn Probleme auftreten, deren Existenz nicht in Abrede gestellt werden kann und eine Prüfung unvermeidlich ist, erfolgen die Untersuchungen fast immer bei laufender Anlage. Im Zweifelsfall wird also grundsätzlich zum Vorteil des Betreibers angenommen, dass die Probleme nicht so gravierend sind, eine Stilllegung zu rechtfertigen..

6. Prüfungen werden häufig in die Länge gezogen und um Jahreverzögert; selbst bei offensichtlich sicherheitsrelevanten Fragestellungen.

7. Sicherheitsdefizite und Schwachstellen werden mit zweierlei Maßgemessen. Mängel, die bei "Ost-Reaktoren" (zu Recht) kritisiert werden, werden bei deutschen Anlagen totgeschwiegen.

Das Besondere an der Atomenergie sind die großen Gefahren, die von den Atomkraftwerken ausgehen. Ein schwerer Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk kann Millionen Opfer fordern, die Landkarte Mitteleuropas verändern und einen wirtschaftlichen Schaden in Billionenhöheverursachen (wichtig sind ohne Zweifel auch die Probleme, die mit der Produktion von Atommüll und den militärischen Zusammenhängen der Atomenergie verbunden sind; sie sind aber nicht Thema der vorliegenden Studie).

Das Risiko eines solchen Unfalles ist gegeben; darüber besteht allgemeiner Konsens. Dass es sich nicht bloß um ein praktischvernachlässigbares, hypothetisches "Rest-Risiko" handelt, das zeigen unter anderem die real existierenden Mängel und Probleme in deutschen Anlagen, von denen in dieser Studie einige Fallbeispiele dargestellt werden. Real ist ebenso die schwer nachweisbare, schleichende Bedrohung durch unkontrollierte Emissionen im unfallfreien Betrieb.

Wahrscheinlich sind die Gefahren in Wirklichkeit noch größer, als hier aufgezeigt werden kann. Aufgrund der dargestellten Praxis muss davon ausgegangen werden, dass nicht alle wichtigen Probleme und Gefahren auch öffentlich bekannt werden.

Es ist aber schon auf Grundlage der bekannten Informationen eine rationale und wohlbegründete, ja längst überfällige Entscheidung, die Risiken der Atomenergie nicht länger in Kauf zu nehmen und in Deutschland den Ausstieg zu vollziehen. Darüber hinaus ist es dringenderforderlich, auch im internationalen Rahmen, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union, für den Ausstieg einzutreten.

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