IPPNW Berlin
ippnw@berlin.snafu.de
An:
* die Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag
* die Mitglieder des Bundesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen
* den Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen
* die Landes- und Kreisverbände von Bündnis 90/Die Grünen
Berlin, den 25.06.1999
Offener Brief an die Bundestagsabgeordneten, den Bundesvorstand, den Bundesgeschäftsführer sowie an die Landes- und Kreisverbände von Bündnis 90/Die GrünenSoll Jürgen Trittin das nächste Opfer der (Atom-)Wirtschaft werden?
Liebe Grüne,
über Monate hinweg konnten wir den Dauerbeschuß der Wirtschaft und des Bundeskanzlers auf Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine in den Medien verfolgen, bis der Sozialdemokrat schließlich zurücktrat.
Die gezielten Falschmeldungen über die Höhe der Steuerlast für die Rückstellungen der Atomkraftwerksbetreiber, die als angebliche handwerkliche Fehler zum erzwungenen Rücktritt des Ministers beitrugen, wurden erst einige Wochen nach dem Rücktritt korrigiert. Das interessierte dann niemand mehr.
Derzeit steht Bundesumweltminister Jürgen Trittin wieder einmal im Mittelpunkt der Kritik. Die Atomwirtschaft verlangt machtbewußt eine Beschneidung der Kompetenzen Trittins und Bundeskanzler Schröder bekommt - ganz staatsmännisch und medienwirksam - einen Wutanfall.
Dabei macht Jürgen Trittin nach unserem Eindruck seit Monaten im Grunde nichts anderes, als sich mit seiner Politik der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen und damit der Geschäftsgrundlage dieser Bundesregierung anzunähern.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß diese Koalitionsvereinbarung aus unserer Sicht wenig überzeugend und gerade in der Atompolitik ein schlechter Kompromiß ist.
Der Presse entnahmen wir, daß nicht nur die Atomwirtschaft und der Bundeskanzler am mittelfristigen Rücktritt Jürgen Trittins arbeiten. Joschka Fischer und Rezzo Schlauch haben sich am 17. Juni mit Bundeskanzler Schröder getroffen und sollen zumindest signalisiert haben, daß auch sie Jürgen Trittin am liebsten fallenlassen würden. Dieser erfuhr von diesem Treffen erst hinterher.
Weitere führende Mitglieder der Bundestagsfraktion und der Partei sollen sich gegenüber der Presse ebenfalls dahingehend geäußert haben, daß sie gegen einen Rücktritt Trittins nichts einzuwenden hätten.
Wir betrachten es in einer Situation, in der sich die Atomwirtschaft gemeinsam mit Herrn Schröder anschickt, den zweiten mißliebigen Bundesminister aus seinem Amt zu entfernen, als eine katastrophale Entwicklung, wenn Jürgen Trittin nicht die ungeteilte Unterstützung seiner eigenen Partei erfährt.Wenn Jürgen Trittin jetzt auch noch von "innen" unter Beschuß gerät und sich einzelne Spitzenpolitiker ausgerechnet gegenüber (atom-)wirtschaftsnahen, meinungsführenden Zeitungen wie der "FAZ" von ihrem Umweltminister distanzieren, dann ist das eine Politik, die den Atomausstieg insgesamt torpediert.
Die grüne Bundestagsfraktion verzichtet auf ihr Druckpotential für einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. Statt den Minister zu stützen, wird er permanent geschwächt. Ein mangelndes diplomatisches Vorgehen können wir weniger bei Minister Trittin erkennen als vielmehr im Verhalten der grünen Bundestagsfraktion.
Wir werden den Eindruck nicht los, daß es vielen ohnehin nur noch darum geht, ein Atomkraftwerk vor den nächsten Bundestagswahlen vom Netz zu nehmen, um der Öffentlichkeit und der Parteibasis den langjährigen Weiterbetrieb der Atomanlagen (und den Neubau von Atomkraftwerken im benachbarten Ausland unter Beteiligung der deutschen Atomwirtschaft einschließlich von Atomstromimporten nach Deutschland) als "Ausstieg" verkaufen zu können.
Die IPPNW ist äußerst unzufrieden mit der bisherigen Atompolitik. Die historische Chance für einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie durch eine höchst ungeschickte Verhandlungsstrategie in der Regierungskoalition jetzt zu verspielen, wird Euch das verbliebene Wählerpotential kosten.
Es war immer klar, daß der kleine grüne Koalitionspartner die treibende Kraft beim Ausstieg aus der Atomenergie sein muß. Es war immer klar, daß sich die SPD zumindest in eine große Koalition flüchten kann. Ihr könnt Euch jetzt nicht damit herausreden, daß Gerhard Schröder ständig mit dem Bruch der Koalition droht.
Wir erwarten eine starke und überzeugende politische Strategie für einen schnellen Atomausstieg und eine überzeugende Umsetzung. Dann wird es Euch an der Unterstützung durch die Anti-Atom-Bewegung nicht fehlen.
Dr. Angelika Claußen Ewald Feige Hendrik Paulitz
(1. Vorsitzende) (Geschäftsführung) (Kampagne Atomausstieg