Das hatten wir doch schon:
Quelle:
Der Spiegel Nr. 52 vom 21.12.1998 Seite 22 - 26
Kurztitel: Ausstieg aus der KernenergieKERNENERGIE. Abschied vom Atomstrom
In aller Stille haben sich Bundeskanzler Schröder und die Strombosse auf den Ausstieg verständigt: In 20 Jahren soll Schluß sein mit der Kernenergie in Deutschland. Der öffentliche Streit geht dennoch weiter, um Aktionäre und Grüne gleichermaßen zu beruhigen. Ein Sieger steht bereits fest: der beharrlich verhandelnde Wirtschaftsminister Müller. Selbst der engste Vertraute des Kanzlers, Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, mußte draußen bleiben. Erst als die Tür fest verschlossen war, startete die streng vertrauliche Runde im Bonner Kanzleramt. Nach genau 105 Minuten war Gerhard Schröder mit den Chefs der vier mächtigsten deutschen Stromkonzerne handelseinig.
Entspannt bestieg Viag-Lenker Wilhelm Simson anschließend seinen Flieger, um den engsten Getreuen im heimischen München den Erfolg mitzuteilen. Auch RWE-Chef Dietmar Kuhnt, kaum zurück in der Essener Konzernzentrale, freute sich vor Vertrauten über die "guten Gespräche". Nur der Kanzler mußte seine Zuversicht zügeln. "Alle Beteiligten", verkündete ein zurückhaltender Gerhard Schröder, "sind bereit, sich zu einigen." Für die im Januar beginnenden Energiekonsens-Gespräche zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft, betonte Schröder, seien "natürlich" nur Vorarbeiten geleistet worden.
Das ist stark untertrieben. Denn der Bundeskanzler hat seine erste wirklich historische Reform auf den Weg gebracht: den Ausstieg aus der Kernenergie. Zwar vermeiden es die Akteure, offen über Details zu reden. Aber nach dem Treffen im Kanzleramt steht nicht nur die Marschrichtung fest, sondern auch der Zeitrahmen. Die weltweit drittgrößte Volkswirtschaft wird sich binnen 20 Jahren von der Kernkraft verabschieden. Bis dahin soll der letzte Meiler abgeschaltet werden.
Als Gegenleistung für diesen großzügigen Zeitrahmen sollen die Stromkonzerne auf Milliarden-Schadensersatzklagen gegen den Staat verzichten.
Die rot-grüne Bundesregierung, so der Plan, wird mit allen Atombetreibern einen Staatsvertrag schließen, in dem die Abschaltzeiten der 19 laufenden Reaktoren unwiderruflich festgehalten werden. Nach dem Dauerstreit um die Atomkraft soll das Paragraphenwerk den Energieversorgern eine zuverlässige Planungsgrundlage geben sogar für den Fall, daß sich die Machtverhältnisse in Bonn wieder ändern.
Auch für die Grünen sind schnelle Erfolge vorgesehen. Bereits bis Ende dieser Legislaturperiode im Jahr 2002, das ist ausgemacht, können mindestens zwei ältere Reaktoren abgeschaltet werden. Die beiden sind noch nicht ausgesucht. In Frage kommen die Uraltmeiler Biblis A, Stade und Obrigheim. Die Montagsrunde im Kanzleramt traf noch eine weitere wichtige Verabredung: Auf keinen Fall dürfe der Atomdeal nach außen dringen. Sollten dennoch Details publik werden, wollen die beteiligten Gentlemen ihr Agreement aufs schärfste dementieren.
Denn das Großprojekt kann nur verwirklicht werden, wenn jeder der Kontrahenten sein Gesicht wahrt. Heftiger Streit gehört dazu ebenso wie wechselseitige Schuldzuweisungen und die notorischen Unterstellungen unlauterer Absichten. Niemand kann seine Position kampflos räumen, will er vor seiner Klientel nicht als Schwächling dastehen. Um keinen Preis dürfen sich die Konzernchefs Zugeständnisse leisten wegen leichtfertigen Umgangs mit dem Kapital des Unternehmens könnten die Manager von den eigenen Aktionären vor Gericht gezogen werden.
Natürlich will auch die grüne Basis, die im Kampf gegen Kalkar, Brokdorf oder Gorleben von der Bewegung zur Partei wurde, ihre Matadoren kämpfen sehen. Das konsequente Nein zum Atomstrom gehört zu den letzten Gründungsmythen der Grünen. Die Rituale des Konflikts sind ja auch zuverlässig abrufbar. Daß Schröder zur Runde mit den Konzernchefs am vorigen Montag lediglich Wirtschaftsminister Werner Müller hinzuzog, gab dem Grünen Jürgen Trittin die Chance zur öffentlichen Erregung. Daß der Umweltminister wiederum seine "Politik der Nadelstiche" fortsetze, bedauerte daraufhin pflichtschuldig der parteilose Müller.
Seit Wochen läßt Trittin seine Ministerialbeamten an einer Neufassung des Atomrechts feilen. Mit der Novelle wollte Trittin eigentlich noch vor Beginn der Konsensverhandlungen im Januar fertig sein. Der Umweltminister versichert beharrlich, er setze "Punkt für Punkt" den Koalitionsvertrag um. Den Sozialdemokraten geht Trittin zu weit. Die Koalitionsvereinbarung zum Atomausstieg sei nicht zufällig nur stichpunktartig geregelt, wendet Wirtschaftsminister Müller ein offen für Verhandlungen mit den Konzernen. So spielt jeder Akteur seine Rolle. Müller ist der Genosse der Bosse, Trittin der wackere Kämpfer für urgrüne Ideale, obendrüber thront Gerhard Schröder als erfolgreicher Moderator unversöhnlicher Interessen.
Das wohlinszenierte Spiel hat seinen Sinn. Denn was Laien für Kleinkram halten mögen, kann über Schäden in Milliardenhöhe entscheiden. Schon geringe Abweichungen vom stillschweigenden Atomkonsens können das gesamte Projekt gefährden.
So will der ungeduldige Umweltminister vorschreiben, daß binnen eines Jahres alle 19 Meiler eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen. Das steht so im Koalitionsvertrag. Trittin ließ seine Beamten allerdings auch gleich noch festlegen, daß bei den Meiler-Checks "der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik" als "Überprüfungsmaßstab" dienen soll. Für die Konzernchefs ist das eigentlich eine versteckte Kriegserklärung. Rasch, so fürchten sie, könnten Trittins Atombeamte die Abschaltung aller 19 Reaktoren durchsetzen.
Umstritten zwischen Rot-Grün ist auch, wie die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente im Ausland beendet werden soll. Der grüne Umweltminister will den deutschen Stromkonzernen die Plutoniumwirtschaft in Frankreich und Großbritannien schlicht verbieten. Für diesen Fall, hält Müller dagegen, drohen die Franzosen, postwendend sämtlichen deutschen Atommüll aus La Hague zurückzuschicken. Auf einen Schlag, warnt der Wirtschaftsminister, wären "rund 200" Atomtransporte fällig.
Zudem will Müller auf jeden Fall Schadensersatzklagen aus Frankreich vermeiden. Dazu werde es gar nicht kommen, so behauptet Trittin, wenn der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung vom deutschen Parlament beschlossen sei. Im Kern, betont Müller, wolle er genau wie Trittin die Wiederaufarbeitung unwiderruflich beenden. Doch um den Franzosen Spielraum für Verhandlungen zu lassen, stehe im Koalitionsvertrag die diplomatische Formel "Beschränkung der Entsorgung auf die direkte Endlagerung".
Schröder ergriff Partei für seinen Wirtschaftsminister und damit gegen den grünen Umweltressortchef. Vor der Kabinettssitzung vergangenen Mittwoch nahm der Kanzler den widerspenstigen Trittin zur Seite, um ihn auf den gemeinsamen Kurs einzuschwören. Dann stornierte der Kanzler die Atomnovelle erst einmal. Am Tag zuvor mußte sogar der Ober-Grüne Joschka Fischer ins Kanzleramt, zur Deeskalation. Der Außenminister befürchtete, daß sich Trittin mit überzogenen Forderungen zwangsläufig in die Rolle des Verlierers manövriert. Dabei müßte die Öko-Partei den Ausstieg doch als ihren Erfolg darstellen. Trittin und Schröder haben Erfahrung darin, Streit professionell ausufern zu lassen, um ihn dann wieder zu drosseln. Das Duo hat das in Niedersachsen von 1990 bis 1994 vorgemacht: beim Bau der Erdgaspipeline durchs Wattenmeer oder der Daimler-Benz-Teststrecke im Emsland. Der eine wetterte als Minister für Bundes- und Europa-Angelegenheiten gegen die Projekte, der andere ergriff als SPD-Landesvater Partei für die Belange der Wirtschaft. Das Ergebnis war immer das gleiche: Schröder setzte sich durch, Trittin wahrte seinen Ruf als linker Kämpfer.
Ähnlich soll es auch diesmal enden. Rezzo Schlauch, grüner Fraktionschef, ist sich schon sicher: "So wird es nicht laufen daß sich Rot-Grün streiten, und die Stromchefs haben gewonnen." Die Energiebosse haben sich vorsorglich mit Munition eingedeckt. Pünktlich servierte der Branchenverband VDEW am vorigen Dienstag ein Gutachten, das schon seit Wochen in der Schublade lag. Ein allzu schneller Ausstieg aus der Atomkraft, so die wohlkalkulierte Botschaft, würde die Deutschen knapp 90 Milliarden Mark und bis zu 150 000 Arbeitsplätze kosten. Zusätzlich ließen die Stromchefs von Experten in ihren Konzernen weitere Horrorzahlen zusammentragen. Rund 83 Milliarden Mark Schadensersatz müßte die Bundesregierung angeblich für entgangenen Gewinn der Konzerne zahlen, wenn alle 19 Meiler sofort stillgelegt würden. Allein für die Schnellabschaltung des 1,3 Gigawatt-Reaktors Neckarwestheim 2, so die Kalkulation der Stromer, würden 8,3 Milliarden Mark fällig. Der Meiler Obrigheim wäre dagegen schon für 900 Millionen Mark zu haben. Das kann und will sich die Bundesregierung natürlich nicht leisten.
Am Tag vor Heiligabend wollen sich die Vorstandschefs aller neun Stromproduzenten in der Zentrale des Münchner Bayernwerks treffen, um endgültig zu entscheiden, mit welchen Zahlen sie die Energiekonsens-Gespräche offiziell eröffnen. Um eine flexible Drohkulisse aufzubauen, haben sich die Unternehmenslenker auch preiswertere Varianten ausrechnen lassen. Die Verteidigungsfront der Stromer ist ohnehin nur scheinbar undurchdringlich. Überraschend verkündete der Dortmunder Energieversorger VEW vor wenigen Wochen, daß am Atomkraftwerk Lingen, dem einzigen VEW-Meiler, bald ein dezentrales Zwischenlager für die abgebrannten Brennelemente entstehen soll, um Castor-Transporte künftig zu vermeiden ganz im Sinne von Rot-Grün.
Dabei hatten die Vorstände der anderen Stromunternehmen dringend gebeten, so kurz vor Beginn der Konsensverhandlungen keine Zugeständnisse mehr zu machen. VEW-Energiechef Hans-Diether Imhoff überhörte die Mahnungen. Er ist auf das Wohlwollen der neuen Bonner Herren besonders angewiesen ein Verlust ihres einzigen Meilers würde die Dortmunder Stromer empfindlich treffen. Richtig nervös ist auch Manfred Timm, Chef der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW). "Der Atomausstieg", warnte der Manager, könne "zu einer Wettbewerbsverzerrung unter den deutschen Elektrizitätserzeugern führen." Die Sorge ist verständlich. Kein anderes deutsches Energieunternehmen ist derart nuklearabhängig: Rund 80 Prozent des HEW-Stroms kommen aus Atomkraft. Zudem gelten die Alt-Meiler Stade und Brunsbüttel als abschaltverdächtig; an beiden sind die Hanseaten beteiligt. Zur Verabredung, die Atomkraftwerke binnen 20 Jahren im Konsens abzuschalten, haben auch die Gewerkschaftsbosse indirekt beigetragen, für die SPD noch immer eine Macht. Diskret wurden Hubertus Schmoldt (Bergbau, Chemie, Energie) und Herbert Mai (ÖTV) im Kanzleramt vorstellig.Eindringlich warnten beide vor Jobverlusten in der Stromwirtschaft. Für ihn, so beruhigte der Kanzler, stehe "nicht ein Ausstieg im Mittelpunkt", sondern der "Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung".
Im Zweifel läßt Schröder selbst politische Freunde fallen, die ihm bei seiner ersten Großtat als Kanzler in die Quere kommen könnten. Dem Umweltminister in Niedersachsen, Wolfgang Jüttner, entzog er im Oktober kurzerhand das Mandat zur Vorbereitung der rot-grünen Koalitionsvereinbarung in Sachen Atom. Der Landesressortchef hatte wichtige Vorarbeiten für das Ausstiegskonzept geleistet, doch dann machte Jüttner den Grünen voreilig in Sachen Beweislast-Umkehr Zugeständnisse, fand Schröder. Bisher müssen im Zweifel die Behörden beweisen, daß der Betrieb eines genehmigten Atommeilers riskant ist; die Grünen wollen nun einführen, die Konzerne sollten beweisen, daß ihre Meiler risikofrei laufen. Prompt ließ Schröder seinen Müller die Klauseln für den Ausstieg aushandeln. Wie kein zweiter in der Bonner Koalition kennt der einstige Veba-Vorstand Müller die Stärken und Schwächen der Energiekonzerne. Akribisch bereitete Müller das Treffen Schröders mit den vier mächtigsten Strombossen vor. Daß ihm gerade deshalb viele Grüne mißtrauen, ist dem politischen Quereinsteiger letztlich egal. "Wir sitzen ja nicht im Sandkasten", meint er staatsmännisch, "sondern wir machen Politik."
HENDRIK MUNSBERG