Junge Welt

14.09.1999

Den Dritten Weltkrieg wagen
US-General Wesley Clark befahl im Juni den Angriff auf russische Truppen nahe Pristina.
Von Rainer Rupp

Am 11. und 12. Juni, nach Beendigung der Bombardierung, waren 200 in Bosnien stationierte russische Soldaten unmittelbar nach dem Rückzug der serbischen Armee ins Kosovo eingerückt. Dort wurden sie von einer jubelnden serbischen Menge begrüßt. Stunden bevor NATO-Truppen in die Provinz kamen. Die russischen Truppen besetzten die Nordseite des Slatina- Flugfeldes und widersetzten sich Aufforderungen der NATO, das Gebiet zu verlassen.

Nun ist es von höchster Stelle offiziell bestätigt: Im Kosovo stand Europa am Rande des Dritten Weltkrieges. Ein schießwütiger amerikanischer NATO-General und Kriegsverbrecher hätte fast das Unvorstellbare ausgelöst. Er hatte den Befehl zum Angriff auf russische Truppen im Kosovo gegeben. Die Wirklichkeit scheint in diesem Fall die Banalität der Klischees der Groschenromane zu übertreffen. Die Rettung kommt in der Person eines beherzten britischen Generals, dessen kühle Vernunft ihm gebietet, sich dem wahnsinnigen Befehl seines amerikanischen Vorgesetzten zu widersetzen, jedoch nicht bevor er sich aus London von seinem Regierungschef Tony Blair Rückendeckung geholt hatte. Obwohl diese ungeheuerlichen Tatsachen nun nicht mehr angezweifelt werden können, wird die wohl gefährlichste Krise seit dem Zusammenbruch des Warschauer Vertrags von unseren Medien und Politikern weitgehend totgeschwiegen. Wer die Fakten kennt, wird verstehen warum.

Am Donnerstag, dem 9. 9. 99, war in Washington der ranghöchste amerikanische Offizier, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA, General Henry Shelton, vor dem Senatsausschuß für die Bewaffneten Streitkräfte (Senat Armed Services Committee) erschienen, wo er die Details der gefährlichen Konfrontation bestätigte. Zugleich bezeichnete General Shelton die Weigerung des britischen Generals Michael Jackson, den Befehl des ihm vorgesetzten Generals Clark, Oberbefehlshaber der NATO in Europa (Foto: AP), auszuführen, als äußerst »bedenklich«. »Das beunruhigende Element«, so Stabschef Shelton, sei, daß durch die Aktion des britischen Generals im Kern »die einheitliche und zusammenhängende Kommandostruktur (der NATO - R.R.) in Frage gestellt wird. Wir können nicht hinnehmen, daß auf jeder Kommandoebene die Befehle in Frage gestellt werden.«

General Clark hatte General Jackson befohlen, mit britischen und französischen Truppen die Übernahme der serbischen Luftwaffenbasis Slatina durch russische Truppen mit Waffengewalt zu verhindern. Auf Grund ihrer großen, unangreifbaren unterirdischen Anlagen und Rollfelder hat die Basis Slatina wohl im ganzen Kosovo die größte strategische Bedeutung. (Nach dem Abkommen zwischen Serbien und der NATO starteten von Slatina noch über ein Dutzend Maschinen der jugoslawischen Luftwaffe. Dort hätte ihnen auch das intensive NATO-Bombardement mit High-Tech-Waffen nichts anhaben können.) Und ausgerechnet diesen wertvollen Stützpunkt hatten die Russen in einem Überraschungscoup mit 200 Soldaten einer Vorausabteilung, aus Bosnien kommend, ohne Absprache mit der NATO besetzt, bevor die NATO- Truppen richtig in ihr neues Protektorat Kosovo eingedrungen waren.

Slatina liegt im britischen Sektor des Kosovo unweit der Hauptstadt Pristina. Als Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte im Kosovo und als britischer Offizier war General Jackson sozusagen doppelt für Slatina »zuständig«.

Jacksons Rückhalt bei Blair

Dem Befehl General Clarks, die russischen Truppen militärisch daran zu hindern, die Kontrolle über Slatina zu übernehmen, widersetzte sich jedoch der britische Oberkommandierende der NATO-KFOR-Truppen. Nach Aussagen von Stabschef Shelton vor dem Senatsausschuß soll General Jackson seinem amerikanischen Vorgesetzten Clark geantwortet haben: »Nein, das werde ich nicht tun. Dafür lohnt es sich nicht, den Dritten Weltkrieg anzufangen.«

Der Streit war schon Anfang August in dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek enthüllt worden, weniger als eine Woche, nachdem Clark mitgeteilt worden war, daß er im nächsten Frühjahr vorzeitig seinen Posten als Oberbefehlshaber Europa räumen muß. Im Artikel der Newsweek hieß es: »Am Ende des Krieges war Clark so versessen darauf, die Russen vom Flughafen von Pristina zu vertreiben, daß er Luftangriffe anordnete, um ihnen das Gebiet abzunehmen. General Michael Jackson, der britische Befehlshaber der Kosovo-Friedenstruppe, führte Clarks Befehle jedoch nicht aus. Daraufhin ersuchte ein frustrierter Clark Admiral James Elles Jr., den amerikanischen Offizier, der für das NATO-Kommando Süd verantwortlich war, Hubschrauber auf den Landebahnen landen zu lassen, um so den großen russsichen Iljuschin-Transportmaschinen die Nutzung der Landebahn zu verweigern. Auch Ellis machte nicht mit und meinte, Jackson wäre damit nicht einverstanden. Jackson wie Clark riefen ihre jeweilige politische Führung zu Hause an. Jackson erhielt Unterstützung, Clark nicht. Praktisch wurden seine Befehle als oberster Befehlshaber übergangen.«

Der britischen Nachrichtenagentur ITN zufolge waren bereits amerikanische Hubschrauber und britische und französische Truppen in Mazedonien für den Angriff zusammengezogen worden. Ohne Jacksons Weigerung hätten sie Clarks Befehle ausgeführt.

Eine militärische Quelle sagte der »Washington Times«, daß, nachdem die Russen den Flughafen erreicht hatten, General Clark dem KFOR-Kommandeur nochmals den Befehl gab, Panzer und Kampffahrzeuge dorthin zu schicken, um weitere russische Truppenstationierungen zu verhindern. Die Quelle gab an, General Jackson habe keine britischen Panzerfahrzeuge einsetzen wollen, nachdem die politische Führung in London davor zurückgeschreckt sei, Panzer so dicht an bewaffnete russische Mannschaftstransporter heranzubringen.

Kein russischer Sektor

Washington war über den vorsorglichen Schachzug der Russen tief beunruhigt. Deren Forderungen nach einem eigenen Sektor im Norden des Kosovo und daß die russischen Truppen nicht unter NATO-Oberkommando stehen sollten, wurden abgelehnt. Die Clinton-Regierung versuchte aber, die Bedeutung des Ereignisses herunterzuspielen und nutzte lieber »diplomatische Kanäle«. Darunter fielen Drohungen, IWF-Kredite zu beschneiden, und Schmiergeldangebote an zivile und militärische russische Beamte. Gleichzeitig überredeten die USA Ungarn, Rumänien und anfangs auch die Ukraine, Rußland den Durchflug durch ihren Luftraum zu verweigern, und verhinderten so die Landung von Transportflugzeugen, mit denen die Truppen am Flughafen von Pristina versorgt und verstärkt werden sollten. Anfang Juli stimmten die Russen dann zu, ihre Truppen der NATO zu unterstellen.

»Die Machtspiele beenden«

Die Öffentlichkeit belog General Clark, indem er behauptete, es gebe keinen Grund, sich über eine militärische Konfrontation zwischen russischen und NATO-Truppen Sorgen zu machen. Gleichzeitig betonte er aber, daß General Jackson »das Recht und die Möglichkeit« habe, die russischen Truppen zu entfernen. In der Zeitschrift The New Yorker hieß es dazu, »Clark gab öffentlich vor, daß es nicht besonders wichtig war, während er in Wirklichkeit kochte.«

Ob General Clark von führenden Regierungsvertretern im Pentagon in Washington unterstützt wurde, ist nicht klar. Einige in Europa vermuten das aber. Jonathan Eyal, der Direktor des »Royal United Services Institute« (die führende Militärakademie) in London, erklärte Anfang August: »Es ist zu einfach, Clark alles anzuhängen. Ich bezweifle stark, daß er ohne amerikanische Unterstützung das Risiko eingegangen wäre.« Mittlerweile berichtete die BBC am 30. August, daß nicht nur General Clark, sondern auch »Washington auf eine NATO-Hubschrauberlandung auf dem
Slatina-Flughafen gedrängt hat. Als ihm das befohlen wurde, habe General Jackson geantwortet, das ginge nur, wenn sie bereit seien, eine Menge russischer Leichen zu sehen.«

Im außenpolitischen Establishment der USA gibt es durchaus Kräfte, die zu einer solchen Konfrontation aufrufen, darunter der frühere Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der am 14. Juni im »Wall Street Journal« einen Kommentar mit dem Titel schrieb: »Die NATO muß den Machtspielen Rußlands ein Ende machen.«

Schließlich wurde Clark offenbar von seinen Vorgesetzten im Pentagon und dem Weißen Haus abgesägt. Diese schienen auf die Warnungen der Briten gehört zu haben, daß eine Konfrontation mit den immer noch mit Atomwaffen gerüsteten Russen nicht ratsam sei. Clark war während des gesamten Krieges mit seinen militärischen und zivilen Vorgesetzten aneinandergeraten. Er drängte auf ein möglichst aggressives militärisches Vorgehen, egal, wie viele Opfer es unter der Zivilbevölkerung und der NATO geben würde oder welche politischen Auswirkungen diese
insbesondere in Europa hätte.

Schon einige Zeit vor dem Krieg war Clark in Konflikt mit US- Verteidigungsminister William Cohen und anderen geraten, als er verlangte, ein angebliches serbisches Massaker an Albanern nahe der Stadt Racak letzten Januar zum Vorwand für sofortige Luftangriffe zu nehmen.

Die amerikanischen Regierungsbeamten zogen es vor, Präsident Milosevic erst ein Ultimatum zu stellen (den Vertrag von Rambouillet), damit es so aussehe, als seien alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, bevor die NATO zu bomben anfing.

Am 24. März 1999, als die Luftangriffe begannen, wollten die politischen Führer der NATO die Ziele begrenzen, weil sie glaubten, eine erste Welle von Bombenwürfen würde die jugoslawische Regierung zur Kapitulation bringen. Clark und seine Luftwaffenkommandeure wollten dagegen bereits in der ersten Nacht »ins Stadtzentrum« gehen und Strom, Telefon und Kommandozentralen in Belgrad und anderen größeren Städten angreifen, ebenso wie Milosevics Privatwohnungen.

Schon früh hatte Clark ein Geschwader Apache- Kampfhubschrauber für die Unterstützung eines Bodenangriffs im Kosovo angefordert. Nach Protesten des amerikanischen Generalstabschefs Dennis Reimer hatte er das Pentagon umgangen und war direkt zum Weißen Haus gegangen. Clark tat dies, weil er unbedingt das Pentagon dazu bringen wollte, ihm eine Bodeninvasion im Kosovo und damit außer der Luftwaffe und der Marine den Einsatz von Landstreitkräften - seiner eigenen Trupppengattung - zu gestatten. Dabei wurde er von dem deutschen Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses in Brüssel, General Klaus Naumann, tatkräftig unterstützt. Aber die Angst der NATO-Politiker vor einem verlustreichen Bodenkrieg im Kosovo war zu groß. »Wir haben die Entscheidung der Politik knurrend akzeptiert«, erinnerte sich kürzlich General Naumann.

Ende Mai forderte Clark von der politischen Führung der NATO die Genehmigung, die jugoslawische Stromversorgung anzugreifen und damit auch den Krankenhäusern, Wasserwerken und der Beleuchtung die Elektrizität zu entziehen. In einem Artikel der Zeitschrift The New Yorker vom 2. August wird Clark zitiert, der seine Frustration darüber ausdrückte, daß es bis zu diesem Zeitpunkt »die einzigen Luftangriffe der Geschichte waren,
während denen Liebespaare entlang des Flußufers in der Abenddämmerung spazieren gingen und vor Cafés im Freien aßen, um dem Feuerwerk zuschauen zu können.«

Während die Brutalität des Generals den amerikanischen Interessen während des Krieges gute Dienste leistete, machte sein Ruf, schneller zu schießen als zu denken, seiner militärischen Karriere dann doch ein vorschnelles Ende.

Tatsächlich haben die Ereignisse Mitte Juni jedoch gezeigt, daß die amerikanische Politik der Rücksichtslosigkeit und des Militarismus die Gefahr weitaus folgenschwererer Zusammenstöße beinhaltet, selbst solcher mit Atommächten und -waffen. »Gab es wirklich die reale Gefahr einer militärischen Konfrontation an jenem Freitag?« wurde der stellvertretende US- Außenminister Strobe Talbott am 30. August in einem BBC- Interview gefragt. »Ja, ich glaube ja«, war seine Antwort.

Gefährlichste Konfrontation

Jonathan Eyal, der schon erwähnte Direktor des »Royal United Services Institute« meinte, daß die beinahe stattgefundene militärische Konfrontation mit den Russen bei Slatina die gefährlichste Episode des NATO-Krieges gewesen sei, über die jedoch zugleich sehr wenig berichtet worden sei. Und im Verhältnis zwischen den USA und Europa hätte sie »zu der größten diplomatischen Krise seit Ende des Kalten Krieges führen können.«

Bis jetzt konnte ein militärische Konfrontation zwischen der NATO und Rußland auf dem Balkan verhindert werden, hauptsächlich, weil das korrupte Jelzin-Regime sich seine Außenpolitik hat mit IWF-Dollar und anderen Geschenken abkaufen lassen. Der Zwischenfall von Slatina zeigt aber, wie nahe eine solche Konfrontation war, weil die amerikanische Seite die Russen nicht mehr ernst nimmt. Es sollte besonders uns Europäern eine Warnung sein.

Der nächste NATO-Krieg wird womöglich nicht so glimpflich enden. Im Kosovo hat nun der deutsche General Klaus Reinhardt den Briten Jackson als Oberbefehlshaber der KFOR abgelöst. Hätte der Deutsche auch den Mut gehabt, sich dem Befehl seines amerikanischen Vorgesetzten Clark zu widersetzen, oder hätte er sich an die militärische Maßgabe gehalten, die US-Stabschef Shelton vor dem Senatsausschuß beschwor, daß nämlich nicht auf jeder Kommandoebene Befehle in Frage gestellt werden dürfen? Und wenn General Reinhardt nun doch gezögert hätte, hätte er von der Amerika-hörigen Riege der deutschen politischen Führung Rückendeckung für seine Befehlsverweigerung bekommen wie Michael Jackson von Tony Blair aus London? Oder hätte Klaus Reinhardt, der deutschen Soldatentugend folgend, den Dritten Weltkrieg gewagt?

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