Gentechnologie
zurück
Gen-Technologie / Der neue Mensch ist doch der alte
Erbgut-Manipulation und Maschinen-Träume: Wo die Chancen liegen,
wo die Chimären lauern
Jens Reich
Gegenwärtig durchläuft die deutschen Medien - ganz anders
als in den USA oder sonst in Europa - eine Welle panischer Verzückung. Computertechnik,
Gentechnik und Nanotechnik werden uns eine unglaubliche Schwindelfahrt in eine
Zukunft erleben lassen, an deren Ende wir Menschen zur Maschine, die Maschinen
zu menschlichen Chimären schen werden und die Omega-Phantasien des Pater Teilhard
de Chardin aus den fünfziger Jahren zur Wirklichkeit.
Es lohnt vielleicht, sich auf die Erfahrungen zu besinnen
und eine Meta-Analyse vorzunehmen. Die jeweils neueste Welle von Zukunftsphantasie
kommt langsam heran, sie wird groß, sie schlägt über uns zusammen, wir werden
umgerissen, stehen danach auf und sehen nur den langen Wellenrücken, flaches
Wasser. Nur ein Sog zieht uns in die der Welle entgegengesetzte Richtung - sanft,
unwiderstehlich: Es ist wieder die Vergangenheit, die unser Bewußtsein beherrscht.
Vor fast 200 Jahren gab es so eine Woge: Die Romantiker wetteiferten um die
reichsten Fantasiegebilde, und es ist schwer zu sagen, wem der Siegespreis gebührt.
Zu den Kandidaten zählt zweifellos Mary Shelley mit ihrem "Frankenstein"
von 1818, dem Roman der wildgewordenen Anthropotechnik, jener biotechnologischen
Spottgeburt, die dem Erfinder entrann und später auch zum filmischen Schreckgespenst
wurde.
Aus Fantasten werden Futurologen
Die Visionen, die nach Mary Shelley kamen, waren zumeist sachlicher.
Das 20. Jahrhundert brachte die kalten Phantasien hervor, die Roboter Karel
Capeks, die schöne neue Welt Aldous Huxleys, die skurrilen Fremdheiten Arthur
Clarkes, die intelligenten Spinnereien Stanislav Lems.
Ähnlich abgeklärt-abstrakt
sind auch die Phantasien, die gegenwärtig im Schwange sind. Bill Joy prophezeit
uns den Untergang des Homo sapiens durch die Evolution der Computer und Roboter,
die uns mit unserer vorsintflutlichen Körpertechnologie einfach überflüssig
machen werden. Allein der umständliche Sex, gefolgt von neun Monaten durchblutungsgestauter
Körperfülle als Technik der Reproduktion; dann noch der dauernde nächtliche
Regenerationsbedarf, dazu die unappetitlichen Entsorgungsprobleme über den Magen-Darm-Trakt;
der Kopfschmerz, die Lust auf Erholung, die explosive Ablenkung im Rausch, im
Genuß, die totale Relaxation - alles ineffizient und suboptimal: Also werden
wir hinweggefegt werden von höheren Intelligenzen und Potenzen, so wie wir den
Neandertaler ins Nichts verdrängten.
Es gibt auch optimistische Varianten der gleichen Vision.
Ray Kurzweil ("Homo sapiens") beispielsweise fühlt sich eher als Herr
der Entwicklung. Es wird uns gut gehen. Unser Gehirn wird abgelesen und in Computern
nachgebildet werden; unsere Sinne erfahren millionenfache Verstärkung durch
angeschlossene Elektronik, und unser Körper wird nicht mehr aus dem zerfließlichen,
verderblichen Material sein, mit dem wir heute vorlieb nehmen müssen. Eine Fortsetzung
jahrtausendealter Ersetzungspraxis, nichts weiter: dem Gehirn halfen wir mit
geschriebenen Notizen, den Sinnen mit der Brille auf der Nase, dem Körper mit
Prothesen und Transplantaten. Nanocomputer werden im Inneren des Körpers die
Regulation des Stoffwechsels übernehmen oder ihn ganz ersetzen. Wo die Evolution
sich sperrt, wird ihr mit Keimbahn-Ingenieurskunst auf die Sprünge geholfen
werden.
Wie der Fortschritt läuft
Vor einem Studium des sachlichen Hintergrunds solcher Visionen
lohnt es, sich klarzumachen, wie es mit vergangenen Prophetien stand. Sie erlitten
meist die Verwandlung von der Faszination zur Lächerlichkeit. In meiner Kindheit
erhielt ich beim Eintritt in die Organisation der Jungen Pioniere das Buch "Wie
der Mensch zum Riesen wurde", vom sowjetischen Forscher Iljin, zum Geschenk.
Mir ist aus diesem Epos der Zukunftsfreude noch die Zeichnung vom Berlin des
Jahres 2000 in Erinnerung: von Wolkenkratzern gesäumte Straßenschluchten, über
denen hoch oben in der Luft ein gigantischer Verkehr von Flugzeugen, Hubschraubern
und Zeppelinen abrollt. Die Zukunft der Energieversorgung bestand in der Vision
von dem nie versiegendem Reichtum durch Kernfusion - auch heute noch ein Traum.
Dazu der Aufbruch ins Weltall, Zivilisation auf fernen Planeten, die Zeitreise
- heute mühen sich die Kosmonauten auf den verrotteten Raumstationen ab, und
ein Atom-U-Boot krepiert mit seiner Besatzung auf dem Grund der Barentsee.
Der Motor aller technischen Zukunftsphantasien ist die monotone
Extrapolation: Entwicklungslinien aus der Vergangenheit werden nahtlos in die
Zukunft fortgeschrieben. Es ist das exponentielle Wachstum, dem alle neuen Techniken
ebenso wie alle jungen Populationen folgen. Wie die sich von Feld zu Feld verdoppelnde
und alle Grenzen sprengende Körnerzahl auf dem Schachbrett der berühmten Legende
aus dem Orient wird die Menschheit in geometrischer Progression wachsen, erklärte
Malthus vor 200 Jahren und sagte den Hungertod voraus, da die Lebensmitteltechnik
dem nur linear folgen könne. In geometrischer Progression wachsen die Leistungen
der Computer, lehrt Ray Kurzweil heute und bezeichnet die Regel als seine Wiederentdeckung
des Mooreschen Gesetzes von 1965. In jedem Gärkessel wächst die Hefesuspension
so, daß der Logarithmus der Zellzahl linear ansteigt, bis ... - ja bis irgend
ein begrenzender Faktor diesen Anstieg abschwächt und beendet: sei es die schiere
Enge im Gärgefäß, sei es der Mangel an vergärbarem Nährstoff, sei es die Vergiftung
durch das Endprodukt, Alkohol. Kurzweil erwähnt diese Abschwächung der Wachstumsgeschwindigkeit
nur, um sie für unwichtig zu erklären, da im Fall der einsetzenden Begrenzung
einfach eine neue Flasche aufgemacht wird: Wenn die Silizium-Transistor-Technik
ihre Grenze erreicht, dann geht die Computerfertigung auf neue Werkstoffe, auf
weitere Miniaturisierung über; werden Moleküle zu groß sein, dann rechnen wir
in Atomen oder Teilchen, vielleicht sogar Quarks.
Das Mooresche Gesetz springt auf immer neue Technologien über
und entgeht damit dem Gesetz der Bremsung von Bäumen, die zu hoch wachsen. Es
wird zum Glaubenssatz, der der Phantasie immer neue Flügel verleiht. Alle Schwierigkeiten,
die dabei auftreten können, ökologische, technische, funktionelle – all das
überspringt der explorative Gedankenflug ohne Behinderung. Kurzweil generiert
Ordnung aus dem Chaos und beruft sich dazu auf die biologische Evolution. Einen
Kommentar zu dem Einwand, daß Ordnung aus Chaos nur dann entsteht, wenn eine
Negentropiequelle (letzten Endes das Sonnenlicht) vorhanden ist und sofort alle
Ordnung zusammenfällt, wenn diese ausfällt, gibt er nicht.
Auch nicht kommentiert wird der Bedarf an "Neg-Komplexität".
Es ist nämlich nicht nur die Rückkopplungs-Kontrolle durch Masse oder Mangel
an Raum oder konzentrierter Energie, die ein exponentielles Wachstum bei allen
Prozessen stets begrenzt und in eine Sättigungsphase überführt hat. Es ist die
mit der Entwicklung von Systemen wachsende Komplexität, die aller exponentiellen
und hyper-exponentiellen Phantasie eine Grenze setzt.
Auf einer heute populären Abbildung ist das vorausgesagte
Wachstum der Rechenleistung (gemessen in Rechenoperationen pro Zeiteinheit)
auf logarithmischer Skala aufgetragen. Um das Jahr 2020 herum wird ein handelsüblicher
Personalcomputer die Rechenleistung eines menschlichen Gehirns überholen; um
2060 dann wird er die Leistung der gesamten Menschheit erreichen. Solche Schätzungen
zeigen, daß die Kapazität, Aufgaben zu lösen proportional zum Produkt aus Speicherkapazität
und Rechengeschwindigkeit angenommen wird. Dieses Gesetz gilt aber natürlich
nur für Aufgaben, die sich massiv parallelisieren lassen. Wenn alle sechs Milliarden
Menschen gleichzeitig das Ergebnis von 14 x 13 ausrechnen, dann steigt die Rechenleistung
ebenfalls auf das Milliardenfache, nicht aber die Qualität des Ergebnisses.
Die Sterne am Himmel zu zählen, dazu könnten sich alle Menschen zusammentun,
indem jedem ein anderes Himmelseckchen zugewiesen und das Zählungsergebnis addiert
wird.
Aber die Verständigung über die Aufteilung des Firmaments
ist der begrenzende Faktor und nicht die Zählung selbst. Kurzweil, Joy und andere
Futurologen sind beeindruckt von den gebnissen, die durch massive Parallelisierung
von Mustererkennungsprozessen im Gehirn (etwa bei der Bildverarbeitung des Sehzentrums)
oder bei der Erkennung von Schriftzeichen durch Computer erreicht wird; sie
kommentieren aber kaum, wie komplexe, vieldimensionale Probleme gleichzeitig
nebeneinander zu bearbeiten und danach sinnvoll zusammenzufassen sind.
Wenn's um die Gene geht
Besonders auffällig wird der Mangel an Problembewußtsein bei
den Zukunftsphantasien, wenn es um die Gentechnik geht. Wer annehmen kann, daß
im Körper kreisende Nanobots unseren versagenden Stoffwechsel und das Immunsystem
steuern könnten, hat ein extrem reduziertes, mechanisches Bild von der Komplexität
von genetischen und zellulären Prozessen und dem Integrationsgrad ihrer Selbstorganisation.
Grade die Chaostheorie hat doch an relativ einfachen Modellen gezeigt, daß die
Nichtlinearität von Prozeßabläufen zu einer Komplexität führen kann, die jede
einfache Vorhersagbarkeit und damit Steuerbarkeit sprengt. So läßt sich zwar
vorhersehen, daß es Genprothesen geben wird, wenn einem Organismus eine bestimmte
Information zum Ablauf eines Prozesses abhanden gekommen ist (also bei Gendefekten
wie Bluterkrankheit und cystischer Fibrose, schon nicht mehr beim Typ-II-Diabetes,
den Kurzweil lässig nebenbei zitiert); daß es aber höchst zweifelhaft ist, ob
sich das Design unseres Organismus durch gezieltes engineering wenigstens bei
ausgewählten Merkmalen verändern läßt. Zudem ist jedes evolutionäre Design auch
ein Kompromiß zwischen zahlreichen Optimierungszielen, und dieser Kompromiß
ist prinzipiell nicht aufhebbar. Es wäre zum Beispiel mit Sicherheit nicht zur
Entwicklung von Bandscheiben zwischen den Wirbelkörpern gekommen, die nicht
durch Blutgefäße, sondern durch Gewebssaft ernährt werden, wenn unsere Urvorfahren
Wirbeltiere bereits aufrecht auf zwei Beinen gegangen wären und die Unzweckmäßigkeit
gepreßter Weichteilscheiben erfahren hätten - jetzt können wir nicht mehr zurück.
Wir bezahlen die Aufrichtung in der Savanne, die freigewordenen Hände, den weiten
Blick in die Landschaft, mit lebenslangen Rückenbeschwerden. Keine Evolution
kann das ändern; es sei denn, sie schafft uns ganz ab.
Sollen wir Embryonen klonen?
Gegenwärtig hat die Gentechnik einen Konkurrenten im Rennen um
die Hoheit über die Zukunft bekommen: die Zell- und Gewebetechnik. Ohne technische
Brutalität soll das dem menschlichen Designer immer noch weit überlegene Potential
der lebenden Materie so umprogrammiert werden, daß aus Stammzellen transplantationsfähige
Ersatzzellen oder Ersatzorgane entstehen. Ich hätte nichts dagegen, daß etwa eine
meiner Knochenmarks-Stammzellen überredet wird, in meinem Inneren zur dopaminliefernden
Nervenzelle oder zur Insulinspenderin zu werden, wenn ich das dringend benötigte
- weniger jedenfalls, als gegen die Vorstellung, solches Material von einem Embryo,
einem anderen Individuum, zu erhalten. Wider die Hybris, embryonale Stammzellen
und damit potentielle Menschen speziell für Spenderzwecke herzustellen (wie es
in den USA und jetzt auch in England angestrebt wird), würde ich allerdings der
deutschen Wissenschaft empfehlen, den ersten Weg, mit körpereigenen Zellen, die
nicht mein Klon, sondern nur ein umprogrammierbarer Teil meiner selbst sind, zu
versuchen -- und sich nicht durch die vielleicht schnelleren technischen Fortschritte
bei Embryonen verleiten zu lassen.
Glaube und Skepsis halten sich bei der Zukunftsschau die Waage.
Beide beruhen auf Erfahrungen und Annahmen, deren Gültigkeit nicht umstandslos
in die Zukunft übertragen werden kann. Auch vor Jahrhunderten hat das Mooresche
Gesetz schon gewirkt, und trotzdem sind die Menschen Menschen geblieben. Ich
bin überzeugt, daß mein Ururenkel im Jahre 2099 trotz aller Neuerungen noch
ein Mensch sein wird wie wir heute. Die Ablösung der Menschennatur durch technische
Konstrukte: Das wird nicht funktionieren.
Der Autor ist Molekularbiologe, war Begründer des Neuen Forums
und lebt als Wissenschaftler und Essayist in Berlin.