Fachbereich Finanzen / Wirtschaft / Soziales
25.11.2000 Grüner Vorstoß zur Tarifdemontage Worum wird eigentlich gestritten? Ein Kommentar von Daniel Kreutz
Während Arbeitgeberverbände, F.D.P. und CSU den Vorstoß begrüßten, hagelte es vernichtende Erklärungen von Gewerkschaftsvorständen, darunter auch vom neuen ÖTV-Vorsitzenden Frank Bsirske, der ein grünes Parteibuch besitzt. Kernargument der Schlauch-KritikerInnen: Der Vorstoß führe zur Aushebelung der Tarifautonomie und zur Unterlaufung des Flächentarifvertrags. So weit, so richtig. Um die bereits durch die rot-grünen Rentenpläne und Kanzlers "Basta!" brüskierten Gewerkschaften zu beruhigen, sprach Schröder flugs ein Machtwort und versicherte, dass der Schlauch-Vorschlag nicht Wirklichkeit werde. So weit, so gut. Streit ums Verfahren statt um die Sache Bei näherem Hinsehen fällt indes auf, dass sich die gewerkschaftsoffzielle Kritik kaum gegen den inhaltlichen Kern des grünen -Vorschlags richtet, sondern eher gegen die Art und Weise, wie er durchgesetzt werden soll. Kern des Vorstoßes ist die Auffassung, dass (vorübergehende) untertarifliche Arbeit besser sei als Erwerbslosigkeit. Nun halten gewerkschaftsamtliche KritikerInnen dem grünen Schlauch vor, er habe keine Ahnung von der Tarifwirklichkeit. Was er fordere, sei bereits in vielen Tarifverträgen umgesetzt. Nicht nur gibt es in Ostdeutschland die "Härtefallklauseln", die Bezahlung unter Tarif "zur Abwendung drohender Insolvenzgefahr" zulassen. Auch im Westen haben die Gewerkschaften längst ähnliche Tarifregelungen getroffen. Beispielsweise erlaubt der Beschäftigungssicherungstarifvertrag für die niedersächsische Metallindustrie die kostensenkende Absenkung der Arbeitszeit, wenn dadurch Arbeitsplätze erhalten werden können. Der Tarifvertrag für die Chemieindustrie etwa ermöglicht untertarifliche Beschäftigung von neueingestellten ArbeitnehmerInnen, die zuvor erwerbslos waren. Längst haben gewerkschaftliche "Reformer" den Tausch "Tarifrechte gegen Arbeitplatz" als Teil einer "modernen" Tarifpolitik akzeptiert. So sagte auch DGB-Vize Engelen-Kefer, dass sich die Gewerkschaften Öffnungsklauseln in Tarifverträgen nicht verweigern würden. "Allerdings müsse die Ebene des Handels bei den Tarifvertragsparteien bleiben". (Frankfurter Rundschau v. 21.11.2000) Damit gibt sie Metall-Arbeitgeberchef Kannegiesser recht, der die Aufregung über den Grünen-Vorstoß für "künstlich" hält. Die Initiative der Grünen zeige, "dass die Tarifpartner gefordert sind, die Reform des Flächentarifvertrags in eigener Regie voranzutreiben, wenn sie es vermeiden wollen, dass die Politik ihnen diese Arbeit abnimmt." (Gesamtmetall-Presseinformation Nr. 26 v. 20.11.2000). Gewerkschaften und Arbeitgeber bewegen sich hier auf der gemeinsamen Konsensbasis, dass Tarifentgelte nicht mehr "ununterschreitbare Mindeststandards" sind, sondern ihre Geltung davon abhängig zu machen ist, ob sie dem Einzelunternehmen und seinen Betriebsräten als "verkraftbar" gelten. Unfreiwillige "modernisierte" Tarifpolitik Das es diese Konsensbasis gibt, ist nicht der Überzeugungskraft des (Arbeitgeber-)Arguments geschuldet. Wir erinnern uns an die Welle tarifvertragswidriger Erpressungen von Betriebsräten durch Arbeitgeber während der heißen Phase der Standort-Debatte in den frühen 90er Jahren. Landauf, landab stellten damals Chefs ihren Betriebsrat vor die Wahl: Entlassungen oder Tarifverzicht. Da eine kollektive, solidarische Gewerkschaftsstrategie zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen zusammen mit der Strategie der Arbeitszeitverkürzung beerdigt war, konnten isolierte Belegschaften und Betriebräte dem Druck nicht standhalten. Reihenweise wurden tarif- und damit rechtswidrige Vereinbarungen zur "Beschäftigungssicherung" abgeschlossen, von denen manche auch die Unterschrift offizieller Gewerkschaftsvertreter trugen. Zugleich verschärften die Arbeitgeber ihren Angriff auf den Flächentarifvertrag, insbesondere durch das Szenario massenhafter Verbandsaustritte, d.h. Verlust der Fähigkeit von Arbeitgeberverbänden, Flächentarifverträge überhaupt abzuschließen. Schließlich riefen ostdeutsche Arbeitgeber offen zum Tarifbruch auf. Die tarifpolitischen "Modernisierer" beantworteten die Macht der Millionäre nicht mit der Gegenmacht von Millionen. Sie glaubten vielmehr, sowohl ihre zur Tarif-Desertation erpressten Betriebsräte und Mitglieder als auch ihren verbandlichen Tarif "partner" dadurch bei der Stange halten zu können, dass sie das Geschäft der Deregulierung selbst übernahmen. "Tarifdemontage per Tarifvertrag" zwecks Tausch "Tarifrechte gegen Arbeitsplatzsicherung" war auch das Muster, das dem seinerzeit populären Haustarifvertrag von VW zugrunde lag. Das unternehmerische Kostensenkungsziel wurde so statt durch Massenentlassungen durch Senkung der Arbeitskosten realisiert. Seit vielen Jahren ist "Tarifdemontage per Tarifvertrag" zu einem Grundzug der Tarifpolitik geworden. Crime doesn't pay? Von wegen! Was mit massenhafter rechtswidrige Erpressung begann, konnte eine grundlegende Änderung gewerkschaftlicher Tarifpolitik bewirken. Mit Klaus Zwickels Vorstoß für ein "Bündnis für Arbeit" hörten die deutschen Gewerkschaften auf, die zentrale Kampfthese neoliberaler Angebotspolitik in Frage zu stellen: die These, dass zwischen der Höhe der Arbeitsentgelte und dem Beschäftigungsstand ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe, dass Arbeit "billiger" werden müsse, wenn es "mehr" davon geben soll. So bestätigt denn auch der Streit um den Schlauch-Vorstoß, dass der einzelbetriebliche Tausch "Tarifrechte gegen Arbeitsplätze" auch zukünftig Orientierung der Tarifpolitik bleiben wird. Die einzelbetriebliche Erpressung hört damit nicht auf, Erpressung zu sein, sie wird nur legalisiert. Wann immer es dem Arbeitgeber gelingt, der Belegschaft zu suggerieren, das eine Verweigerung von Tarifverzicht "unweigerlich" Entlassungen größeren Stils nach sich ziehe, werden Beschäftigte - verständlicherweise - dem "Arbeitsplatzerhalt" den Vorrang geben. Eine Gewerkschaft, die das dann als Tarifvertragspartei verhindern will, riskiert einen enorm schwierigen Konflikt mit ihren Mitgliedern und Betriebsräten. Verzicht auf offensive Auseinandersetzung mit den Doktrinen der Angebotspolitik führt zur gewerkschaftlichen Selbstaufgabe Mit der skizzierten "Modernisierung" und "Flexibilisierung" der Tarifpolitik, deren "Erfolge" heute Herrn Schlauch entgegengehalten werden, um die "Entbehrlichkeit" des gesetzlichen Brecheisens gegen Kollektivrechte der ArbeitnehmerInnen zu demonstrieren, wird der Flächentarifvertrag nur noch als zunehmend entleerte Hülle "gerettet". Für betroffene ArbeitnehmerInnen ist es nur eine Frage von höchst nachrangiger Bedeutung, auf welcher Rechtsgrundlage der Tausch "Tarifrechte gegen Arbeitsplätze" stattfindet. So oder so wird die stumme oder offene Drohung des Arbeitgebers, bei unzureichenden Anstrengungen der Belegschaft zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit "notfalls" von der Öffnungsklausel Gebrauch zu machen, nicht ohne Wirkungen bleiben. Eine weitere Stärkung der "Betriebsgemeinschaft" von Kapital und Arbeit - ohnehin massiv stimuliert durch die ganze Ideologie des "Überlebens im globalen Wettbewerb", durch Belegschaftsaktien und stock options (Aktien als Entgeltbestandteil) - gegenüber der Identifikation der Lohnabhängigen mit ihren kollektiven Interessen gegenüber dem Kapital ist programmiert. Die Tendenz zur Verbetrieblichung der Aushandlung der tatsächlich geltenden "Tarif"-Normen trägt zur Zersetzung der Arbeitnehmerschaft als gesellschaftlicher Interessengemeinschaft gegenüber der Kapitalseite bei. Die Plausibilität gewerkschaftlicher Organisierung beruht aber letztlich auf der Erkenntnis der ArbeitnehmerInnen, dass sie konkrete und definierbare Kollektivinteressen haben, die einer kollektiven Wahrnehmung durch Gewerkschaften im Rahmen von Kollektivverträgen bedürfen. Lassen Gewerkschaften dies zweifelhaft erscheinen, indem sie einen Vorrang von einzelbetrieblichen Beschäftigteninteressen gegenüber gesicherten Kollektivrechten einräumen (wenn auch zunächst nur "im Einzelfall"), dann beginnen sie die Grundlage ihrer Existenzberechtigung zu negieren. Dass sie dies tun in der Absicht, damit ihre Position als Verhandlungspartei bei Kollektivverträgen zu verteidigen, entbehrt nicht einer tragikomischen Note. Wollen Gewerkschaften sich mittel- und langfristig als soziale Gestaltungsmacht zugunsten der Lohnabhängigen behaupten, ist vor allem eine offensive Zurückweisung der neoliberalen Doktrin unerlässlich, dass eine Senkung der Arbeitskosten notwendige Bedingung eines höheren Beschäftigungsstandes sei. Nach Jahren der von dieser Doktrin inspirierten "Lohnzurückhaltung" und ihren realen arbeitsmarktpolitischen Effekten - nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen OECD-Staaten - besteht keinerlei Mangel an empirisch und wissenschaftlich fundierten Belegen für das Scheitern der arbeitsmarktpolitischen Versprechungen der neoliberalen Lohndrücker und Deregulierer. Noch ist die Zahl der haupt- und ehrenamtlichen FunktionsträgerInnen in den Gewerkschaften, die noch nicht zur "Modernisierungspolitik" der Neuen Mitte konvertiert sind, ausreichend, um gemeinsam einen öffentlich wahrnehmbaren Pol in einer Grundsatzdebatte um die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung zu bilden. Allerdings müssen dafür sowohl "taktische" Zurückhaltungen aufgegeben und Vernetzungen eingegangen werden, auch quer zu den gewerkschaftlichen Organisationsgrenzen. Und man muss sich verständigen auf die Eckpunkte einer mobilisierungsorientierten Alternativstrategie. Radikale Arbeitszeitverkürzungen, ein neu reguliertes Normalarbeitsverhältnis, solidarischer Umverteilungsstaat statt Wettbewerbsstaat werden darin unverzichtbare Orientierungen sein müssen. Labournet und die Initiative für Vernetzung der Gewerkschaftlinken sind hierfür bescheidene, aber immerhin reale Ansatzpunkte. *) Daniel Kreutz ist Mitglied der IG Metall und ex-Grüner, war Betriebsrat und Mitglied einer Tarifkommission und von 1990-2000 Sprecher der grünen NRW-Landtagsfraktion für Arbeit, Soziales und Gesundheit. Daniel Kreutz: daniel.kreutz@bigfoot.de
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